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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sie ist mehr tot als
    lebendig, das liebe Kind!« So schwirrten in dem Zuschauerhaufen die Worte durcheinander, als Ljewin, der seine
    Braut am Kirchentor in Empfang genommen hatte, mit ihr in die Kirche schritt.
    Stepan Arkadjewitsch teilte seiner Frau den Grund der Verspätung mit, und die Gäste flüsterten lächelnd
    untereinander. Ljewin achtete auf nichts und auf niemand; er sah nur seine Braut an, ohne ein Auge von ihr zu
    wenden.
    Alle sagten, daß Kittys Aussehen sich in diesen letzten Tagen sehr verschlechtert habe und daß sie jetzt im
    Brautkranze lange nicht so hübsch sei wie gewöhnlich; aber Ljewin fand das nicht. Er blickte nach ihrer hohen
    Frisur mit dem langen, weißen Schleier und den weißen Blüten, nach dem hochstehenden, gefältelten Kragen, der so
    recht jungfräulich ihren schlanken Hals an den Seiten verhüllte und vorn offen ließ, nach der erstaunlich schmalen
    Hüfte, und Kitty erschien ihm reizender als je, nicht als ob diese Blüten, dieser Schleier, dieses aus Paris
    bezogene Kleid etwas zu ihrer Schönheit hinzugefügt hätten, sondern weil trotz dieser kunstvollen Pracht ihrer
    Gewandung der Ausdruck ihres lieben Gesichtes, ihrer Augen, ihrer Lippen unverändert der ihr eigene Ausdruck von
    Unschuld und Wahrhaftigkeit geblieben war.
    »Ich dachte schon, du wolltest mir davongehen«, sagte sie und lächelte ihm zu.
    »Was mir passiert ist, ist so dumm, daß ich mich schäme, es zu sagen«, antwortete er errötend. In diesem
    Augenblicke trat Sergei Iwanowitsch zu ihm heran, und er mußte sich zu diesem wenden.
    »Die Geschichte mit deinem Hemd ist aber wundervoll!« sagte Sergei Iwanowitsch lächelnd und kopfschüttelnd.
    »Ja, ja«, erwiderte Ljewin, der gar nicht verstanden hatte, was zu ihm gesagt war.
    »Nun, Konstantin«, sagte Stepan Arkadjewitsch und machte heuchlerisch eine aufgeregte Miene. »Jetzt tritt die
    Entscheidung einer wichtigen Frage an dich heran. Gerade jetzt bist du in der Lage, die ganze Wichtigkeit dieser
    Frage zu würdigen. Ich werde gefragt, ob angebrannte Kerzen angezündet werden sollen oder noch nicht angebrannte.
    Der Unterschied beträgt zehn Rubel«, fügte er hinzu, indem er die Lippen zu einem Lächeln verzog. »Ich habe
    allerdings bereits eine Entscheidung getroffen, fürchte aber, daß du dich nicht damit einverstanden erklärst.«
    Ljewin merkte, daß das ein Späßchen war, vermochte aber nicht darüber zu lächeln.
    »Also wie denn nun? Angebrannte oder nicht angebrannte? Das ist die Frage.«
    »Ja, ja! Nicht angebrannte.«
    »Na, das freut mich sehr! Damit ist die Frage entschieden!« versetzte Stepan Arkadjewitsch lächelnd. »Aber wie
    dumm doch die Menschen in dieser Lage werden«, sagte er zu Tschirikow, nachdem Ljewin, der ihn zerstreut angesehen
    hatte, wieder näher an seine Braut herangetreten war.
    »Gib wohl acht, Kitty, daß du auch ja zuerst auf den Teppich trittst«, sagte die Gräfin Northstone, die zu ihr
    trat. »Sie haben ja einen kostbaren Streich gemacht!« wandte sie sich an Ljewin.
    »Nun, hast du keine Bange?« fragte Marja Dmitrijewna, eine alte Tante.
    »Ist es dir auch nicht zu kühl? Du siehst so blaß aus. Warte mal, bücke dich ein wenig«, sagte Kittys Schwester,
    Frau Lwowa, und rückte ihr, die vollen, schönen Arme hebend, die Blumen auf dem Kopfe zurecht.
    Dolly trat heran und wollte etwas sagen; aber sie war nicht imstande, etwas herauszubringen, sondern brach in
    Tränen aus und lachte dann gekünstelt.
    Kitty blickte alle mit ebenso abwesenden Blicken an, wie Ljewin es tat.
    Unterdessen hatten die Kirchendiener ihren Ornat angelegt, und der Geistliche und der Diakon begaben sich zu dem
    Chorpult, das im Kirchenschiff stand. Der Geistliche wandte sich an Ljewin und sagte ihm etwas. Aber Ljewin hatte
    es nicht verstanden.
    »Fassen Sie Ihre Braut an der Hand und führen Sie sie«, sagte der Hochzeitsmarschall zu Ljewin.
    Lange Zeit konnte Ljewin nicht begreifen, was von ihm verlangt wurde. Lange Zeit verbesserte man an ihm herum
    und wollte die Sache schon als hoffnungslos aufgeben (weil er immer nicht die richtige Hand hinreichte oder nicht
    die richtige Hand ergriff), als er endlich verstand, daß er, ohne seine Stellung zu ändern, mit seiner rechten Hand
    ihre rechte Hand fassen sollte. Nachdem er nun schließlich seine Braut so an der Hand gefaßt hatte, wie es sein
    mußte, ging der Geistliche einige Schritte vor ihnen her und blieb vor dem Chorpult stehen. Der Schwarm der
    Verwandten und Bekannten zog

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