Anna Karenina
Freude«, sagte Anna zu Golenischtschew, als sie bereits wieder auf dem Heimweg
waren: »Alexei wird hier ein gutes Atelier haben. Nimm dir dazu unter allen Umständen das Zimmer, von dem wir
sprachen«, sagte sie zu Wronski auf russisch und redete ihn dabei mit du an, da sie bereits voraussah, daß
Golenischtschew bei ihrer Vereinsamung ihnen nähertreten werde und sich deshalb sagte, daß man sich vor ihm nicht
zu verstellen brauchte.
»Malst du denn?« fragte Golenischtschew, sich schnell an Wronski wendend.
»Ja, ich habe mich vor langer Zeit damit beschäftigt und es jetzt wieder ein bißchen hervorgeholt«, versetzte
Wronski errötend.
»Er hat großes Talent«, fügte Anna mit freudigem Lächeln hinzu. »Ich vermag es ja natürlich nicht zu beurteilen;
aber sachverständige Beurteiler haben dasselbe gesagt.«
8
Anna fühlte sich in dieser ersten Zeit ihrer Freiheit und ihrer schnellen Genesung in unverzeihlicher Weise
glücklich und voll Lebensfreude. Die Erinnerung an die unglückliche Lage ihres Mannes trübte ihr Glück nicht.
Einerseits war diese Erinnerung gar zu schrecklich, als daß sie mit ihren Gedanken dabei hätte verweilen mögen; und
anderseits war das Unglück ihres Mannes für sie die Quelle eines zu großen Glückes geworden, als daß sie es hätte
bereuen können, ihn unglücklich gemacht zu haben. Die Erinnerung an alles, was mit ihr nach ihrer Krankheit
geschehen war: die Versöhnung mit ihrem Mann, die Entzweiung, die Nachricht von Wronskis Verwundung, sein
Wiedererscheinen, die Vorbereitungen zur Scheidung, der Abschied von ihrem Sohn, die Wegfahrt von dem Hause ihres
Mannes – alles das erschien ihr wie ein Fiebertraum, aus dem sie erst erwachte, als sie sich allein mit Wronski im
Ausland befand. Die Erinnerung an das Leid, das sie ihrem Manne zugefügt hatte, erregte bei ihr ein Gefühl von
Widerwillen, ein Gefühl, wie es jemand empfinden mag, der in Gefahr war zu ertrinken und einen andern Menschen, der
sich an ihn anklammerte, von sich gestoßen hat. Dieser Mensch ist ertrunken. Selbstverständlich, das war
unmoralisch gehandelt; aber es war die einzige Rettung, und nun ist es das beste, man denkt an diese furchtbaren
Einzelheiten nicht mehr.
Nur eine einzige beruhigende Überlegung über das, was sie getan, war ihr damals im ersten Augenblick nach dem
Bruch in den Sinn gekommen, und sobald sie jetzt an alles Vergangene dachte, erinnerte sie sich auch wieder an
diesen einen Gedanken. ›Ich habe es nicht vermeiden können, diesen Menschen unglücklich zu machen‹, dachte sie,
›aber ich will aus diesem Unglück keinen Nutzen ziehen; auch ich leide und werde immer leiden; ich habe verloren,
was mir das Teuerste war, meinen ehrlichen Namen und meinen Sohn. Ich habe schlecht gehandelt, und darum will ich
kein Glück für mich; ich will keine Scheidung; die Schande und die Trennung von meinem Sohn, das wird mein Leid
sein.‹ Aber wie aufrichtig auch Annas Wunsch war, selbst zu leiden: sie litt nicht. Von Schande war nichts zu
spüren. Mit jenem Taktgefühl, das ihnen beiden in so hohem Maße eigen war, vermieden sie im Auslande Begegnungen
mit russischen Damen, so daß sie sich nicht in eine falsche Stellung brachten, und verkehrten immer nur mit Leuten,
die sich stellten, als hätten sie für ihr beiderseitiges Verhältnis ein völliges Verständnis, sogar ein noch weit
besseres als sie beide selbst. Selbst die Trennung von ihrem Sohn, den sie so sehr liebte, bereitete ihr in der
ersten Zeit keinen allzu großen Schmerz. Das kleine Mädchen, sein Kind, war so lieb und hatte Annas
Zuneigung, seit ihr nur dieses eine Kind geblieben war, in dem Grade gewonnen, daß sie nur selten an ihren Sohn
dachte.
Annas Lebenslust, die noch durch das Gefühl der Genesung gesteigert wurde, war so groß und ihre augenblicklichen
Lebensverhältnisse waren so neu und so angenehm, daß sie sich in unverzeihlicher Weise glücklich fühlte. Je mehr
Sie Wronski kennenlernte, um so mehr liebte sie ihn. Sie liebte ihn um seiner selbst willen und wegen seiner Liebe
zu ihr. Das Bewußtsein, daß er ganz ihr gehörte, war ihr eine beständige Freude, seine Nähe ihr stets angenehm.
Alle die einzelnen Züge seines Charakters, den sie immer genauer kennenlernte, erfüllten sie mit unsagbarem
Entzücken. Sein Äußeres, durch die Zivilkleidung verändert, hatte für sie einen solchen Reiz wie für ein verliebtes
junges Mädchen. In allem, was er sagte, dachte und tat, sah
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