Anna Karenina
Golenischtschews Gesicht an die Stelle der bisher sichtbaren Unsicherheit.
»Wie freue ich mich, dich wiederzusehen!« sagte Wronski mit einem freundschaftlichen Lächeln, das seine
kräftigen, weißen Zähne sichtbar machte.
»Ich hatte gehört: ›Wronski‹, wußte aber nicht, welcher. Ich freue mich sehr, wirklich sehr!«
»Komm doch mit herein. Nun, wie geht es dir denn?«
»Ich wohne hier schon über ein Jahr lang. Ich arbeite.«
»Ah!« machte Wronski interessiert. »Komm doch herein.«
Und statt das, was er die Dienerschaft nicht wollte verstehen lassen, hier gerade auf russisch zu sagen, begann
er nach der den Russen geläufigen Gewohnheit, französisch zu sprechen.
»Bist du mit Frau Karenina bekannt? Wir reisen zusammen. Ich gehe eben zu ihr«, sagte er auf französisch und
blickte dem andern aufmerksam ins Gesicht.
»Ah! Das wußte ich gar nicht« (er wußte es recht wohl), antwortete Golenischtschew gleichmütig. »Bist du schon
lange hier?« fügte er hinzu.
»Ich? Es ist heute der vierte Tag«, erwiderte Wronski und sah seinen ehemaligen Kameraden noch einmal forschend
an.
›Ja, er ist ein anständiger Mensch und betrachtet die Sache in der richtigen Weise‹, sagte sich Wronski; er
schloß dies aus Golenischtschews Gesichtsausdruck und auch aus der Art, wie dieser dem Gespräch eine andere
Richtung gegeben hatte. ›Ich kann ihn mit Anna bekannt machen; er faßt die Sache richtig auf.‹
In diesen drei Monaten, die Wronski nun mit Anna im Ausland lebte, hatte er sich, sooft er mit neuen Menschen
zusammentraf, immer die Frage vorgelegt, wie jede neue Persönlichkeit sein Verhältnis zu Anna beurteile, und hatte
bei den Männern größtenteils die »richtige« Auffassung gefunden. Hätte man aber ihn und die Leute, die die Sache
»richtig« auffaßten, gefragt, worin denn diese »richtige« Auffassung eigentlich bestehe, so würden sowohl er wie
auch sie in großer Verlegenheit gewesen sein.
In Wirklichkeit hatten die Leute, die nach Wronskis Meinung die Sache richtig auffaßten, sich überhaupt kein
Urteil darüber gebildet, sondern benahmen sich einfach so, wie sich wohlerzogene Menschen all den schwierigen und
unlösbaren Fragen gegenüber benehmen, die uns im Leben von allen Seiten umgeben: sie benahmen sich anständig und
vermieden Anspielungen und unerwünschte Fragen. Sie gaben sich den Anschein, als hätten sie für das Wesen und die
innere Begründung dieser Lage ein volles Verständnis, als erkennten sie diese Lage an und billigten sie sogar, aber
als hielten sie es für ungehörig und überflüssig, das alles auszusprechen.
Wronski fühlte sofort heraus, daß Golenischtschew zu dieser Menschengattung gehörte, und freute sich daher
doppelt, ihn zu sehen. Und wirklich benahm sich Golenischtschew, sobald er Frau Karenina vorgestellt war, ihr
gegenüber so, wie es Wronski nur irgend wünschen konnte. Er vermied offenbar, ohne daß es irgendwie gezwungen
ausgesehen hätte, alle Gespräche, die unbehaglich hätten werden können.
Er hatte Anna vorher nicht gekannt und war überrascht von ihrer Schönheit und noch mehr von der schlichten
Natürlichkeit, mit der sie sich in ihre Lage hineinfand. Sie errötete, als Wronski ihr Golenischtschew vorstellte,
und dieses kindliche Erröten, das ihr schönes, offenes Gesicht überzog, gefiel ihm außerordentlich. Ganz besonders
aber gefiel es ihm, daß sie gleich von vornherein, wie mit Absicht, daß bei dem Fremden kein Mißverständnis
entstehen könne, Wronski einfach »Alexei« anredete und erwähnte, sie siedelten beide in ein Haus, hier Palazzo
genannt, über, das sie soeben gemietet hätten. Dieses offene, schlichte Benehmen in ihrer Lage gefiel
Golenischtschew. Wenn er jetzt Annas gutmütig heiteres, frisches Wesen sah, so glaubte er, der sowohl Alexei
Alexandrowitsch wie auch Wronski kannte, vollständig zu verstehen, wie sie so hatte handeln können. Er meinte zu
begreifen, was übrigens sie selbst durchaus nicht zu begreifen vermochte: nämlich wie es nur möglich war, daß sie,
nachdem sie ihren Mann unglücklich gemacht, ihn und ihren Sohn verlassen und ihren guten Ruf eingebüßt hatte, sich
nun doch frisch und munter und glücklich fühlte.
»Er ist auch im Reiseführer genannt«, bemerkte Golenischtschew über jenen Palazzo, den Wronski gemietet hatte.
»Es ist da ein schönes Bild von Tintoretto; aus seiner letzten Periode.«
»Wissen Sie was? Es ist prächtiges Wetter, wir wollen hingehen und
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