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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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vollkommen befriedigt.‹ Ljewin mißbilligte in seinem Innern dieses Verhalten und hatte noch kein
    Verständnis dafür, daß sie sich so auf die Zeit gewaltiger Tätigkeit vorbereitete, die für sie eintreten mußte,
    wenn es ihr obliegen würde, zu gleicher Zeit die Frau ihres Mannes zu sein, das Hauswesen zu leiten und Kinder zu
    gebären, zu säugen und zu erziehen. Er begriff nicht, daß sie das instinktiv vorher wußte und sich in der Zeit der
    Vorbereitung auf diese furchtbare Arbeitsleistung keinen Vorwurf wegen der wenigen Augenblicke der Sorglosigkeit
    und des Liebesglückes zu machen brauchte, die sie jetzt genoß, während sie sich fröhlich ihr Nest für die Zukunft
    baute.

16
    Als Ljewin hinaufkam, saß seine Frau am Teetisch mit dem neuen silbernen Samowar und dem neuen Teegeschirr und
    las einen Brief von Dolly, mit der sie in beständigem regem Briefwechsel stand. Der alten Agafja Michailowna hatte
    sie eine Tasse Tee eingegossen und sie an einem kleinen Tischchen Platz nehmen lassen.
    »Sehen Sie nur, hier hat mich die gnädige Frau hergesetzt; sie hat mir befohlen, hier bei ihr im Zimmer zu
    bleiben«, sagte Agafja Michailowna und blickte freundlich lächelnd nach Kitty hin.
    Aus diesen Worten der Alten zog Ljewin einen Schluß auf die Lösung des dramatischen Streites, der sich in der
    letzten Zeit zwischen Agafja Michailowna und Kitty abgespielt hatte. Er sah daraus, daß Kitty trotz der Kränkung,
    die die alte Haushälterin dadurch erlitten hatte, daß ihr von der jungen Hausfrau die Zügel der Regierung aus der
    Hand genommen waren, doch den Sieg über Agafja Michailowna davongetragen und sich deren Liebe errungen hatte.
    »Da habe ich auch einen an dich gerichteten Brief geöffnet«, sagte Kitty und reichte ihm einen fehlerhaft
    geschriebenen Brief hin. »Ich glaube, er ist von der Frau, die bei deinem Bruder ist ...«, sagte sie. »Ich habe ihn
    nicht durchgelesen. Und da ist einer von meinen Eltern und einer von Dolly. Denke dir nur, Dolly ist mit Grigori
    und Tanja auf einem Kinderball bei Sarmazkis gewesen; Tanja als Marquise.«
    Aber Ljewin hörte nicht zu; er griff errötend nach dem Brief von Marja Nikolajewna, der früheren Geliebten
    seines Bruders Nikolai, und begann ihn zu lesen. Das war schon der zweite Brief, den er von Marja Nikolajewna
    empfing. Das erstemal hatte sie geschrieben, sein Bruder habe sie ohne ihr Verschulden weggejagt, und mit rührender
    Schlichtheit hinzugefügt, sie sei zwar jetzt bettelarm, bäte aber um nichts für sich und wünsche für sich nichts;
    es quäle sie nur der Gedanke, daß Nikolai Dmitrijewitsch bei seiner schwachen Gesundheit ohne sie zugrunde gehen
    müsse, und daher bäte sie Ljewin, ihn im Auge zu behalten. Jetzt aber teilte sie etwas anderes mit. Sie hatte
    Nikolai Dmitrijewitsch wiedergefunden, war in Moskau wieder mit ihm zusammengezogen und mit ihm nach der
    Gouvernementsstadt gereist, wo er eine Anstellung im Staatsdienst erhalten hatte. Aber dort, schrieb sie, hätte er
    mit seinem Vorgesetzten einen argen Streit gehabt und die Rückfahrt nach Moskau angetreten; unterwegs jedoch sei er
    so krank geworden, daß er wohl kaum wieder aufkommen werde. »Er spricht immer von Ihnen, und es ist auch kein Geld
    mehr da.«
    »Lies doch einmal; Dolly schreibt auch etwas über dich ...«, begann Kitty lächelnd, hielt aber plötzlich inne,
    da sie die Veränderung in dem Gesichtsausdrucke ihres Mannes bemerkte. »Was hast du? Was gibt es?«
    »Sie schreibt mir, daß mein Bruder Nikolai im Sterben liegt. Ich muß hinfahren.«
    Kittys Gesicht änderte sich plötzlich. Der Gedanke an Tanja als Marquise und an Dolly, alles das war mit einem
    Male verschwunden.
    »Wann fährst du?« fragte sie.
    »Morgen.«
    »Ich möchte auch mitfahren; darf ich?« bat sie.
    »Kitty! Aber was soll das heißen!« erwiderte er in vorwurfsvollem Tone.
    »Was das heißen soll?« versetzte sie, gekränkt darüber, daß er ihren Wunsch anscheinend mit Abneigung und
    Mißfallen aufnahm. »Warum sollte ich denn nicht mitfahren? Ich werde dir dabei nicht lästig sein. Ich ...«
    »Ich fahre, weil mein Bruder im Sterben liegt«, antwortete Ljewin. »Was hat es für Zweck, daß du ...«
    »Was es für Zweck hat? Denselben wie dein Hinfahren.«
    ›Auch in einem für mich so ernsten Augenblick denkt sie nur daran, daß sie sich hier allein langweilen würde‹,
    dachte Ljewin. Und dieser Winkelzug in einer so ernsten Angelegenheit ärgerte ihn.
    »Es geht nicht«, antwortete er

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