Anna Karenina
hinzu: »Oder geht nur hin und laßt mich
dann rufen.« Damit kehrte sie in das Zimmer zurück; Ljewin aber ging zu seinem Bruder.
Was er dort sah und auch was er dort empfand, entsprach in keiner Weise seiner Erwartung. Er hatte erwartet,
wieder denselben Zustand der Selbsttäuschung vorzufinden, der, wie er gehört hatte, bei Schwindsüchtigen so oft
vorkommt und der sich im Herbste, als sein Bruder ihn besuchte, in so auffälligem Grade gezeigt hatte. Er hatte
erwartet, die körperlichen Anzeichen des nahenden Todes zwar noch schärfer ausgeprägt zu finden als damals, eine
noch größere Schwäche, eine noch größere Magerkeit, aber doch im ganzen denselben Zustand. Er hatte erwartet, daß
er selbst dasselbe Gefühl des Schmerzes über den bevorstehenden Verlust des geliebten Bruders und dasselbe Gefühl
des Schreckens vor dem Tode empfinden werde, das er damals empfunden hatte, nur in noch höherem Grade. Darauf hatte
er sich gefaßt gemacht; aber er fand etwas ganz anderes.
In einem kleinen, schmutzigen Zimmer, dessen angestrichenes Wandgetäfel arg vollgespuckt war und durch dessen
dünne Wand man ein nebenan geführtes Gespräch hören konnte, in einer von dem erstickenden Geruch unsauberer Dinge
erfüllten Luft, lag auf einem von der Wand abgerückten Bett ein in eine Decke eingehüllter Körper. Der eine Arm
dieses Körpers befand sich oberhalb der Decke, und die gewaltig große, einer Harke ähnliche Hand war in
unbegreiflicher Weise an einen dünnen, vom Anfang bis zur Mitte gleich starken, langen Stock befestigt. Der Kopf
lag mit der Seite auf dem Kissen. Dem eintretenden Konstantin Ljewin waren die von Schweiß durchtränkten spärlichen
Haare an der Schläfe und die von beinah durchsichtiger Haut straff überzogene Stirn sichtbar.
›Es ist unmöglich, daß dieser entsetzliche Körper mein Bruder Nikolai sein soll‹, dachte er. Aber er trat näher
heran und erblickte das Gesicht, und nun war kein Zweifel mehr möglich. Trotz der furchtbaren Veränderung, die mit
diesem Gesicht vorgegangen war, brauchte Konstantin nur diese lebhaften, zu dem Eintretenden aufschauenden Augen zu
sehen und die schwache Bewegung des Mundes unter dem zusammenklebenden Schnurrbart wahrzunehmen, um sich von der
entsetzlichen Tatsache zu überzeugen, daß dieser Leichnam sein noch lebender Bruder war.
Die glänzenden Augen blickten den eintretenden Bruder ernst und vorwurfsvoll an. Und durch diesen Blick wurde
sofort festgestellt, was jeder der beiden dem andern gegenüber empfand. Konstantin las sofort den Vorwurf in diesem
starr auf ihn gerichteten Blick und fühlte eine Art von Beschämung über sein eigenes Glück.
Als Konstantin seine Hand ergriff, lächelte Nikolai. Es war nur ein ganz leises, kaum wahrnehmbares Lächeln, und
trotz des Lächelns trat in dem strengen Ausdruck der Augen keine Veränderung ein.
»Du hast wohl nicht erwartet, mich so zu finden«, brachte er mit Anstrengung hervor.
»Ja ... nein«, antwortete Konstantin, der sich in den Worten verwirrte. »Warum hast du mir nur nicht früher
Nachricht zukommen lassen, ich meine um die Zeit, wo ich mich verheiratete? Ich habe überall Nachforschungen nach
dir angestellt.«
Er mußte reden, nur um nicht zu schweigen; aber er wußte nicht, was er sagen sollte, um so weniger, da sein
Bruder nicht antwortete, sondern ihn immer nur mit unverwandten Augen anblickte und offenbar den wahren Sinn eines
jeden Wortes zu ergründen suchte. Konstantin teilte ihm mit, daß seine Frau mitgekommen sei. Nikolai drückte seine
Freude darüber aus, fügte aber hinzu, er fürchte, sie durch seinen Zustand zu erschrecken. Es trat ein
Stillschweigen ein. Auf einmal geriet Nikolai in Bewegung und begann zu sprechen. Nach dem Ausdruck seines
Gesichtes hatte Konstantin etwas besonders Bedeutsames, Wichtiges erwartet; aber Nikolai redete nur von seiner
Gesundheit. Er schalt auf den Arzt, bedauerte, daß eine gewisse Moskauer Berühmtheit nicht da sei, und Konstantin
merkte, daß er immer noch hoffte, wieder gesund zu werden.
Den ersten Augenblick, da Nikolai wieder schwieg, benutzte Konstantin, um aufzustehen; er wollte wenigstens für
einen Augenblick diese qualvollen Empfindungen loswerden. Er sagte, er wolle gehen und seine Frau holen.
»Nun schön, und ich will hier erst noch rein machen lassen. Es ist hier schmutzig und schlechte Luft, glaube
ich. Marja, räume hier auf«, sagte der Kranke mit Anstrengung. »Und wenn du aufgeräumt hast,
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