Anna Karenina
in scharfem Tone.
Agafja Michailowna, die sah, daß es zu einem Streit kommen werde, stellte ihre Tasse leise hin und ging hinaus.
Kitty bemerkte das gar nicht. Der Ton, in dem ihr Mann die letzten Worte gesprochen hatte, verletzte sie besonders
deswegen, weil aus ihm deutlich hervorging, daß Ljewin ihr das, was sie gesagt hatte, nicht glaubte.
»Und ich sage dir, wenn du fährst, fahre ich mit; unter allen Umständen fahre ich mit«, versetzte sie hastig und
zornig. »Warum soll es nicht gehen? Warum sagst du: es geht nicht?«
»Weil ich Gott weiß wohin fahren muß, vielleicht auf sehr schlechten Wegen, und dann die Gasthäuser ... Du
würdest mir hinderlich sein«, antwortete Ljewin, der sich bemühte, ruhig zu bleiben.
»Nicht im geringsten. Ich mache keine Ansprüche. Wo du sein kannst, da kann ich auch sein ...«
»Nun, es geht schon deswegen nicht, weil da diese Frauensperson ist, mit der du nicht in Berührung kommen
kannst.«
»Ich weiß von nichts und will gar nicht wissen, wer und was da ist. Ich weiß nur, daß der Bruder meines Mannes
im Sterben liegt und mein Mann zu ihm hinfährt, und da fahre ich mit meinem Manne, um ...«
»Kitty, ereifere dich nicht! Aber bedenke nur, die Sache ist so ernst, daß es mir schmerzlich sein muß zu
denken, daß du dabei eine solche Schwäche von dir mit ins Spiel bringst, wie es die Abneigung gegen das
Alleinbleiben ist. Nun, wenn es dir hier allein zu langweilig ist, so fahre doch nach Moskau.«
»Ja, siehst du, so schiebst du mir immer schlechte, gemeine Gedanken unter; immer machst du es so!« rief sie,
indem ihr im Gefühl der erlittenen Kränkung und vor Zorn die Tränen in die Augen traten. »Ich habe keinen andern
Grund, ich habe keine solche Schwäche, gar nichts habe ich ... Ich fühle einfach, daß es meine Pflicht ist, mit
meinem Manne zusammenzubleiben, wenn er Kummer hat; aber du willst mir absichtlich wehe tun, du willst absichtlich
nicht verstehen, daß ...«
»Nein, das ist unerträglich! Da ist man ja geradezu ein Sklave!« rief Ljewin, nicht mehr imstande, seinen Ärger
zurückzuhalten, und stand auf. Aber im selben Augenblick fühlte er auch schon, daß er sich selbst schlug.
»Warum hast du denn dann geheiratet? Du hättest ja ein freier Mann bleiben können. Warum hast du geheiratet,
wenn du es jetzt bereust?« rief sie, sprang auf und lief in das Wohnzimmer.
Als er ihr dorthin folgte, schluchzte sie herzzerbrechend.
Er begann zu ihr zu reden und bemühte sich, die richtigen Worte zu finden, nicht um sie zu überreden, nur um sie
zu beruhigen. Aber sie hörte nicht auf ihn und wollte von nichts wissen. Er beugte sich zu ihr herab und ergriff
ihre widerstrebende Hand. Er küßte ihre Hand, küßte ihr Haar und dann wieder ihre Hand – sie schwieg immer noch.
Aber als er sie mit beiden Händen um das Gesicht faßte und sagte: »Kitty!«, da kam sie auf einmal zur Besinnung,
weinte noch ein Weilchen und versöhnte sich dann wieder mit ihm.
Es wurde beschlossen, daß sie am folgenden Tage beide zusammen fahren sollten. Ljewin hatte zu seiner Frau
gesagt, er sei überzeugt, daß sie nur deshalb mitzufahren wünsche, um sich nützlich zu erweisen; er hatte
zugegeben, daß die Anwesenheit Marja Nikolajewnas bei seinem Bruder nicht als unanständig zu betrachten sei; aber
im Grunde des Herzens war er bei dieser Reise mit Kitty und mit sich selbst unzufrieden. Mit ihr war er deshalb
unzufrieden, weil sie sich nicht hatte entschließen können, ihn allein wegzulassen, wo es doch nötig war (und wie
sonderbar war es ihm zu denken, daß er vor noch ganz kurzer Zeit nicht gewagt hatte, an das Glück zu glauben, daß
sie ihn lieben könne, und sich jetzt unglücklich fühlte, weil sie ihn zu sehr liebte!). Und mit sich selbst war er
unzufrieden, weil er keine Charakterfestigkeit bewiesen hatte. Noch weniger war er im Grunde seines Herzens mit
seiner Frau darin einverstanden, daß die Anwesenheit jener Frauensperson, die bei seinem Bruder war, sie ja gar
nichts angehe, und er dachte mit Schrecken an alle die Zwischenfälle, die dadurch veranlaßt werden konnten. Schon
allein der Gedanke, daß seine Frau, seine Kitty, in ein und demselben Zimmer mit einer ehemaligen Dirne sein solle,
ließ ihn vor Widerwillen und Entsetzen zusammenzucken.
17
Das Gasthaus der Gouvernementsstadt, in dem Nikolai Ljewin krank lag, war eines jener Provinzhotels, die
ursprünglich nach dem modernen, vervollkommneten Zuschnitt mit den besten
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