Anna Karenina
dem Strauche unter den herabhängenden Zweigen der
Birke hin. Mit den Augen den Rauchstreifen verfolgend, wanderte Sergei Iwanowitsch langsamen Schrittes dahin und
dachte über seinen Zustand nach.
›Warum denn auch nicht?‹ dachte er. ›Wenn dies nur so ein plötzliches Aufflackern oder eine leidenschaftliche
Anwandlung wäre, wenn ich lediglich diese Neigung wahrnähme, diese wechselseitige Neigung (jawohl, ich kann sagen:
diese wechselseitige Neigung), dabei aber die Empfindung hätte, daß sie mit der gesamten harmonischen
Gestaltung meines Lebens in Mißklang stände, wenn ich fühlte, daß ich, mich dieser Neigung hingebend, meinem Berufe
und meiner Pflicht untreu würde ... aber all das trifft nicht zu. Das einzige, was ich dagegen sagen kann, ist
dies, daß ich, als ich Marie verlor, mir das Wort gab, ihrem Andenken treu zu bleiben. Das ist das einzige, was ich
gegen mein Gefühl einwenden kann ... Das ist ja allerdings ein wichtiger Punkt‹, sagte Sergei Iwanowitsch zu sich
selbst und fühlte gleichzeitig, daß die ser Gegenstand für ihn persönlich keinerlei Wichtigkeit haben konnte,
sondern daß nur in den Augen anderer Leute die poetische Rolle, die er bisher gespielt hatte, zerstört wurde. ›Aber
davon abgesehen kann ich, soviel ich auch suchen mag, nichts finden, was sich gegen mein Gefühl einwenden ließe.
Wollte ich lediglich nach Vernunftgründen wählen, so könnte ich nichts finden, was besser wäre.‹
Wie viele Frauen und Mädchen, mit denen er bekannt geworden war, er sich auch ins Gedächtnis zurückrief, so
konnte er sich unter ihnen doch auf kein einziges weibliches Wesen besinnen, das in solchem Maße alle, geradezu
alle Eigenschaften vereinigt hätte, die er auf Grund kühler Überlegung an seiner Frau zu finden wünschte. Sie besaß
den ganzen Reiz und die Frische der Jugend, war aber dabei doch kein Kind mehr, und wenn sie ihn liebte, so liebte
sie ihn mit vollem Bewußtsein, wie eben ein Weib lieben muß; das war das eine. Zweitens: sie stand nicht nur dem
weltlichen Treiben fern, sondern hatte augenscheinlich sogar eine Abneigung dagegen; dabei aber kannte sie doch die
Welt und beherrschte alle die Umgangsformen, die einer Dame der guten Gesellschaft geläufig sein müssen und ohne
die für Sergei Iwanowitsch eine Lebensgefährtin undenkbar war. Drittens: sie war religiös, und zwar nicht in der
Art eines Kindes ohne viel Nachdenken religiös und gut, wie es zum Beispiel Kitty war, sondern ihr gesamtes Handeln
gründete sich auf religiöse Überzeugungen. Selbst in minder wichtigen Punkten fand Sergei Iwanowitsch bei ihr alles
so, wie er es sich bei seiner Frau wünschte: sie war arm und stand allein, so daß sie nicht einen Haufen von
Verwandten und deren unerwünschten Einfluß in das Haus ihres Mannes mitbringen konnte, wie er das bei Kitty sah,
sondern sie würde in allen Stücken auf ihren Mann angewiesen sein, was er sich gleichfalls immer für sein künftiges
Familienleben gewünscht hatte. Und dieses Mädchen, das alle diese Eigenschaften in sich vereinigte, liebte ihn. Er
war bescheiden, aber das konnte er trotzdem nicht übersehen. Und er liebte sie. Nur eine Erwägung sprach dagegen:
das waren seine Jahre. Aber seine ganze Familie war langlebig; er hatte noch kein einziges graues Haar; niemand
hätte ihn auf vierzig Jahre geschätzt, und er erinnerte sich, daß Warjenka gesagt hatte, nur in Rußland hielten
sich Leute von fünfzig Jahren schon für alt; in Frankreich dagegen meine ein Fünfzigjähriger in der Vollkraft
seines Lebens zu stehen, und ein Vierzigjähriger betrachte sich als un jeune homme 1 . Und was wollte überhaupt die Zahl der Jahre bedeuten, da er sich doch geistig so
jung fühlte, wie er vor zwanzig Jahren gewesen war! War es denn nicht ein jugendliches Gefühl, das er jetzt
empfand, als er, aus dem Walde an einer anderen Stelle wieder an den Rand heraustretend, in dem hellen Lichte der
schrägen Sonnenstrahlen Warjenkas anmutige Gestalt in dem gelben Kleide und mit dem Körbchen erblickte, wie sie
leichten Schrittes an dem Stamm einer alten Birke vorüberging, und als dieser Eindruck von Warjenkas Erscheinung
bei ihm in eins zusammenfloß mit dem des gelben Haferfeldes, das, von den schrägen Strahlen übergössen, ihn durch
seine Schönheit überraschte, und hinter dem Felde mit dem des alten Waldes, der, mit gelben Flecken gesprenkelt,
sich in der blauen Ferne verlor? Sein Herz empfand eine freudige
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