Anna Karenina
auch
wirklich verstanden.
»Ja, aber es liegt in ihr nicht eine solche Wirklichkeit wie in mir. Daß er sich in mich nie verlieben könnte,
das ist mir begreiflich. Aber sie hat durch und durch etwas Geistiges.«
»Aber nicht doch, er hat dich wirklich sehr lieb, und es ist mir immer eine Freude, daß meine Angehörigen dich
liebhaben ...«
»Ja, er ist sehr gut zu mir, aber ...«
»Aber doch nicht so wie der verstorbene Nikolai«, beendete Ljewin den von ihr begonnenen Satz. »Ihr hattet euch
richtig ineinander verliebt. Warum sollte ich das nicht sagen?« fügte er hinzu. »Ich mache mir manchmal Vorwürfe,
daß ich so wenig an ihn denke, und das Ende wird doch schließlich sein, daß man ihn vergißt. Ach, was für ein
schrecklicher und dabei doch so prächtiger Mensch war er! ... Ja, worüber sprachen wir doch nur?« sagte er nach
einer kurzen Pause.
»Du meinst, er ist nicht imstande, sich zu verlieben?« fragte Kitty, indem sie das, was ihr Mann gesagt hatte,
in ihre Sprache übersetzte.
»Nicht eigentlich, daß er nicht imstande sein sollte, sich zu verlieben«, antwortete Ljewin lächelnd. »Aber er
besitzt nicht die Schwäche, die dazu erforderlich ist ... Ich habe ihn immer beneidet, und sogar jetzt, wo ich so
glücklich bin, beneide ich ihn.«
»Du beneidest ihn darum, daß er nicht imstande ist, sich zu verlieben?«
»Ich beneide ihn darum, daß er besser ist als ich«, versetzte Ljewin wieder lächelnd. »Er lebt nicht für sich
selbst. Sein ganzes Leben hat er in den Dienst der Pflicht gestellt. Und darum kann er ruhig und zufrieden
sein.«
»Und du?« fragte Kitty mit einem spöttischen, liebevollen Lächeln.
Sie vermochte schlechterdings nicht, dem Gedankengang, der sie zum Lächeln gebracht hatte, mit Worten Ausdruck
zu geben; aber das Ergebnis dieses Gedankenganges war, daß ihr Mann, wenn er von dem Bruder so entzückt rede und
sich selbst so tief unter ihn stelle, dabei nicht ganz aufrichtig sei. Kitty wußte, daß diese seine
Unaufrichtigkeit aus seiner Liebe zu seinem Bruder hervorging, aus einem Gefühl der Beschämung darüber, daß er
unverdientermaßen gar zu glücklich sei, und besonders aus seinem unablässigen Streben, besser zu werden; sie liebte
das an ihm, und darum lächelte sie.
»Und du? Womit bist du denn unzufrieden?« fragte sie noch einmal mit demselben Lächeln.
Daß sie an seine Unzufriedenheit mit sich selbst nicht recht glauben wollte, freute ihn, und ohne sich dessen
selbst bewußt zu sein, forderte er sie dazu heraus, die Ursachen ihres Unglaubens auszusprechen.
»Ich bin glücklich, aber ich bin mit mir selbst unzufrieden ...«, erwiderte er.
»Wie kannst du denn aber unzufrieden sein, wenn du doch glücklich bist?«
»Ja, wie soll ich mich da ausdrücken? ... Ich habe augenblicklich in meinem Herzen nur den einen Wunsch, daß du
nicht straucheln möchtest. Ach, aber du darfst doch nicht so springen!« unterbrach er seine Auseinandersetzung
durch einen Vorwurf für eine zu schnelle Bewegung, die sie bei einem großen Schritt über einen auf dem Fußwege
liegenden Ast gemacht hatte. »Aber wenn ich mich selbst beurteile und mich mit anderen, namentlich mit meinem
Bruder, vergleiche, dann fühle ich, daß ich nur geringwertig bin.«
»Aber wieso denn?« fuhr Kitty mit demselben Lächeln fort. »Bist du nicht ebenfalls im Interesse anderer tätig?
Und deine Vorwerke, und deine Landwirtschaft, und dein Buch? ...«
»Nein, ich fühle es, und besonders jetzt: du bist schuld daran«, versetzte er und drückte ihren Arm an sich,
»daß meine Tätigkeit nicht so ist, wie sie sein sollte. Wenn ich diese ganze Tätigkeit so lieben könnte, wie ich
dich liebe ... so aber erledige ich in letzter Zeit das alles wie eine aufgegebene Arbeit.«
»Nun, und was sagst du dann von Papa?« fragte Kitty. »Ist er denn nun auch geringwertig, weil er nichts für das
Gemeinwohl getan hat?«
»Der? O nein! Aber dann muß man auch so ein natürliches Wesen, eine solche Klarheit des Urteils, eine solche
Herzensgüte besitzen wie dein Vater; und habe ich die etwa? Ich wirke nicht, und das peinigt mich. Alles das hast
du angerichtet. Als du noch nicht da warst und das noch nicht da war«, sagte er mit einem Blick auf ihren
Leib, den sie verstand, »da verwandte ich alle meine Kräfte auf die Arbeit; aber jetzt vermag ich das nicht, und
darüber schäme ich mich; ich arbeite genauso, wie wenn ich ein aufgegebenes Pensum absolvieren müßte; ich
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