Anna Karenina
wollte; aber statt sie zu sagen, fragte er nach einer ihm ganz
unerwartet im Kopfe auftauchenden Überlegung:
»Was ist eigentlich für ein Unterschied zwischen einem Steinpilz und einem Birkenpilz?«
Warjenkas Lippen bebten vor Erregung, als sie antwortete:
»Am Hute ist fast gar kein Unterschied, wohl aber am Stiel.« Sie zeigte ihm zwei Pilze.
Und sobald diese Worte gesprochen waren, wußten sie beide, sowohl er wie sie, daß die Sache aus war, daß das,
was hätte gesagt werden sollen, nun nicht mehr gesagt werden würde, und die Aufregung beider, die vorher den
höchsten Grad erreicht hatte, begann sich zu legen.
»Das ist also der Birkenpilz? Sein Stiel erinnert an den zwei Tage alten, unrasierten Bart eines brünetten
Mannes«, sagte Sergei Iwanowitsch, nun schon in ruhigem Tone.
»Ja, das ist richtig«, antwortete Warjenka lächelnd, und unwillkürlich änderte sich die Richtung ihres
Spazierganges; sie näherten sich wieder mehr den Kindern. Warjenkas Herz zog sich schmerzlich zusammen, und eine
gewisse Beschämung überkam sie; aber zugleich empfand sie auch ein Gefühl der Erleichterung.
Als Sergei Iwanowitsch nachher nach Hause zurückgekehrt war und alle Einzelheiten noch einmal erwog, fand er,
daß seine Vernunfterwägung unrichtig gewesen war. Er war doch nicht imstande, dem Andenken seiner Marie untreu zu
werden.
»Sachte, Kinder, sachte!« rief Ljewin ordentlich ärgerlich den Kindern zu und stellte sich vor seine Frau, um
sie zu schützen, als die Kinderschar mit einem Freudengeschrei ihnen entgegenstürmte.
Nach den Kindern kamen auch Sergei Iwanowitsch und Warjenka aus dem Walde heraus. Kitty brauchte keine Frage an
Warjenka zu richten; an dem ruhigen, ein wenig beschämten Gesichtsausdruck der beiden erkannte sie, daß die Pläne,
die sie entworfen hatte, nicht zur Verwirklichung gelangt waren.
»Nun, wie steht's?« fragte ihr Mann sie, als sie sich wieder auf dem Heimweg befanden.
»Es ist kein Schwung dahinter«, antwortete Kitty. In ihrem Lächeln und in ihrer Ausdrucksweise erinnerte sie
dabei an ihren Vater, eine Ähnlichkeit, die Ljewin an ihr oft mit Vergnügen bemerkte.
»Wie meinst du das?«
»Sieh mal, so!« erwiderte sie, ergriff die Hand ihres Mannes, führte sie an ihren Mund und berührte sie mit
geschlossenen Lippen. »Geradeso, wie man einem Bischof die Hand küßt.«
»Bei wem ist denn kein Schwung dahinter?« fragte er lachend.
»Bei beiden nicht. Sieh mal, so müßten sie's machen ...«
»Da fahren Bauern ...«
»Ach was, die haben nichts gesehen.«
6
Während die Kinder drinnen ihren Tee tranken, saßen die Erwachsenen auf dem Balkon und unterhielten sich
miteinander, als ob nichts vorgefallen wäre, obwohl doch alle und besonders Sergei Iwanowitsch und Warjenka wußten,
daß sich etwas sehr Wichtiges, obgleich nur etwas Negatives, zugetragen hatte. Sie hatten beide die gleiche
Empfindung, ungefähr die Empfindung eines Schülers, der bei der Prüfung durchgefallen ist und nun in derselben
Klasse sitzenbleibt öder für immer von der Anstalt ausgeschlossen wird. Auch alle anderen Anwesenden hatten das
Gefühl, daß etwas geschehen war, und sprachen darum mit besonderer Lebhaftigkeit über andersartige Gegenstände.
Ljewin und Kitty waren an diesem Abend ganz besonders glücklich und ineinander verliebt. Und daß sie in ihrer Liebe
so glücklich waren, empfanden sie als eine peinliche Hindeutung auf die beiden, die ebendasselbe hatten erreichen
wollen und nicht hatten erreichen können; und sie waren wegen ihres Glückes beschämt.
»Denkt an das, was ich sage: Alexander wird nicht kommen«, sagte die alte Fürstin.
Es wurde nämlich an diesem Tage mit dem Abendzug Stepan Arkadjewitsch erwartet, und der alte Fürst hatte
geschrieben, er würde vielleicht auch mitkommen.
»Und ich weiß auch den Grund, warum er nicht kommt«, fuhr die Fürstin fort. »Er sagt, junge Eheleute müsse man
in der ersten Zeit allein lassen.«
»Ja, diese Regel hat Papa gründlich befolgt; noch nicht ein einziges Mal haben wir ihn hier zu sehen bekommen«,
klagte Kitty. »Und sind wir denn etwa junge Eheleute? Wir sind doch schon so alte!«
»Es ist nur dies: wenn er nicht kommt, so werde auch ich Abschied von euch nehmen müssen, Kinder«, sagte die
Fürstin traurig mit einem Seufzer.
»Aber Mama, was kommt Ihnen an!« riefen die beiden Töchter gleichzeitig vorwurfsvoll.
»Bedenkt doch nur, wie verlassen er sich vorkommen muß. Es ist ja jetzt
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