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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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einnehme als der Bürovorsteher und
    Maltus mehr als ein Bahnmeister. Aber trotzdem sehe ich, daß die Gesellschaft diesen Leuten gegenüber eine
    eigentümliche, durch nichts begründete feindselige Stellung ein nimmt, und es scheint mir, daß da der Neid ...«
    »Nein, das ist ungerecht«, meinte Weslowski. »Von Neid kann dabei nicht die Rede sein; etwas Unsauberes haben
    diese Geschäfte doch an sich.«
    »Nein, erlaube«, bemerkte Ljewin gegen Oblonski. »Du sagst, es sei ungerecht, daß ich fünftausend Rubel einnehme
    und ein Bauer nur fünfzig: da hast du recht. Das ist auch ungerecht, und ich empfinde das, aber ...«
    »Wahrhaftig, das ist so. Mit welchem Rechte essen und trinken und jagen und faulenzen wir, und der Bauer kommt
    sein ganzes Leben lang nicht aus der Arbeit heraus?« sagte Wasenka Weslowski, der offenbar zum erstenmal in seinem
    Leben über diesen Gegenstand einigermaßen klar nachdachte und darum völlig aufrichtig redete.
    »Ja, du empfindest das; aber darum gibst du dein Gut doch noch nicht dem Bauern hin«, sagte Stepan
    Arkadjewitsch, wie wenn er Ljewin absichtlich reizen wollte.
    In der letzten Zeit schien sich zwischen den beiden Schwägern eine geheime Feindseligkeit herausgebildet zu
    haben; es war, als ob seit der Zeit, seit sie mit zwei Schwestern verheiratet waren, ein Wettstreit darin zwischen
    ihnen erwachsen wäre, wer sein Leben am besten gestalte, und jetzt kam diese Feindseligkeit darin zum Ausdruck, daß
    das Gespräch eine persönliche Färbung anzunehmen begann.
    »Ich gebe es deswegen nicht hin, weil das niemand von mir verlangt und weil, wenn ich es auch hingeben wollte,
    ich es doch nicht würde hingeben können«, entgegnete Ljewin, »und weil ich auch niemand weiß, dem ich es hingeben
    könnte.«
    »Gib es hier diesem Bauern; er wird es nicht zurückweisen.«
    »Ja, aber wie soll ich es ihm denn geben? Soll ich mit ihm hinfahren und einen Kaufvertrag abschließen?«
    »Das weiß ich nicht; aber wenn du überzeugt bist, daß du kein Recht hast ...«
    »Davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt. Ich fühle im Gegenteil, daß ich kein Recht habe, es wegzugeben, daß
    ich Pflichten sowohl dem Grund und Boden wie auch meiner Familie gegenüber habe.«
    »Nein, erlaube; wenn du der Ansicht bist, daß diese Ungleichheit ungerecht ist, warum handelst du dann nicht
    so?«
    »Ich handle auch so, aber nur negativ, insofern ich nicht bemüht sein werde, den Unterschied der Lage, der
    zwischen mir und ihm besteht, noch zu vergrößern.«
    »Nein, nimm es mir nicht übel, das ist widersinnig.«
    »Ja, das ist eine spitzfindige Auslegung«, stimmte ihm Weslowski bei. »Ah, sieh da, unser Wirt!« sagte er zu dem
    Bauern, der durch das knarrende Tor in die Scheune kam. »Nun, schläfst du noch nicht?«
    »Nein, wie werde ich denn schlafen? Ich dachte, die Herren schliefen schon; da hörte ich, wie sie noch
    miteinander plauderten. Ich möchte mir eine Sense von hier holen. Beißt er auch nicht?« fügte er hinzu, während er
    vorsichtig mit seinen nackten Füßen an einem der Hunde vorbeiging.
    »Wo wirst du denn schlafen?«
    »Wir sind auf Nachtwache bei der Pferdeherde.«
    »Ach, welch eine wundervolle Nacht!« sagte Weslowski und blickte nach den Umrissen des Bauernhauses und des
    ausgespannten Jagdwagens, die bei dem schwachen Lichte der Abendröte in dem großen Rahmen des jetzt geöffneten
    Tores sichtbar waren. »Aber hören Sie nur, da singen ja Frauenstimmen, und wirklich nicht übel. Wer singt denn da,
    Wirt?«
    »Ach, das sind Gutsmägde, da nebenan.«
    »Kommen Sie, meine Herren, wir wollen ein bißchen spazierengehen! Schlafen können wir ja doch nicht. Oblonski,
    komm doch!«
    »Wenn man nur zugleich liegenbleiben und spazierengehen könnte«, antwortete Oblonski, sich streckend. »Es liegt
    sich hier vorzüglich.«
    »Nun, dann gehe ich allein«, sagte Weslowski, stand schnell auf und zog sich Strümpfe und Schuhe an. »Auf
    Wiedersehen, meine Herren. Wenn es vergnüglich sein sollte, so werde ich Sie rufen. Sie haben mich zu Jagdbeute
    gelangen lassen, und da werde ich auch Sie nicht vergessen.«
    »Nicht wahr, ein prächtiger junger Mann?« sagte Oblonski, als Weslowski weggegangen war und der Bauer das Tor
    hinter ihm geschlossen hatte.
    »Ja, das ist er«, antwortete Ljewin, der immer noch an den Gegenstand des vorhergehenden Gespräches dachte. Er
    glaubte seine Gedanken und Gefühle mit aller ihm nur möglichen Deutlichkeit ausgesprochen zu haben, und doch

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