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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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in
    gesellschaftlicher Hinsicht auf die mannigfaltigste, bunteste Weise durch allerlei Umstände untereinander verbunden
    oder voneinander geschieden waren. Anna konnte sich jetzt nur mit Mühe jenes Gefühl einer fast andächtigen
    Verehrung in die Erinnerung zurückrufen, das sie in der ersten Zeit diesen Leuten gegenüber empfunden hatte. Jetzt
    kannte sie sie alle so genau, wie man einander in einer Kreisstadt kennt; sie wußte, welche Gewohnheiten und
    Schwächen ein jeder an sich hatte und wo einen jeden der Schuh drückte; sie kannte ihre Beziehungen untereinander
    und zu dem Mittelpunkte dieses Kreises; sie wußte, an wem sich der eine oder der andere festhielt und wie und mit
    welchen Mitteln, und welche miteinander übereinstimmten oder nicht und in welchen Punkten. Aber diesem Kreise, auf
    den die dienstlichen Interessen ihres Mannes sie hinwiesen, hatte sie trotz allem Zureden der Gräfin Lydia Iwanowna
    nie Geschmack abgewinnen können, und sie vermied ihn nach Möglichkeit.
    Ein zweiter, ihr näherstehender Kreis war der, durch den Alexei Alexandrowitsch seinen Aufstieg gemacht hatte.
    Der Mittelpunkt dieses Kreises war die Gräfin Lydia Iwanowna. Die Mitglieder dieses Kreises waren alte, häßliche,
    tugendhafte, fromme Damen und kluge, gelehrte, ehrgeizige Männer. Einer von den klugen Leuten, die zu diesem Kreise
    gehörten, hatte ihm die Bezeichnung »das Gewissen der Petersburger Gesellschaft« beigelegt. Alexei Alexandrowitsch
    schätzte diesen Kreis sehr hoch, und Anna, die es vorzüglich verstand, sich mit allen möglichen Leuten einzuleben,
    hatte in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes in Petersburg auch in diesem Kreise Freunde gefunden. Aber jetzt, nach
    ihrer Rückkehr aus Moskau, kam ihr dieser Kreis geradezu unausstehlich vor. Es schien ihr, daß sowohl sie selbst
    wie auch alle anderen sich fortwährend verstellten, und es war ihr in dieser Gesellschaft so öde und unbehaglich,
    daß sie bei der Gräfin Lydia Iwanowna möglichst wenig verkehrte.
    Der dritte Kreis endlich, mit dem Anna in Verbindung stand, war die sogenannte große Welt, die Welt der Bälle,
    der Diners, der glänzenden Toiletten, die Welt, die sich mit einer Hand an den Hof klammerte, um nicht zur Halbwelt
    hinabzusinken, die die Angehörigen dieses Kreises allerdings zu verachten wähnten, mit der sie aber doch nicht nur
    einen ähnlichen, sondern geradezu ein und denselben Geschmack hatten. Annas Verbindung mit diesem Kreise wurde
    durch die Fürstin Betsy Twerskaja aufrechterhalten, die Frau ihres Vetters, die hundertzwanzigtausend Rubel
    jährliche Einkünfte hatte. Diese hatte zu Anna gleich bei deren erstem Erscheinen in der Gesellschaft eine
    besondere Neigung gefaßt, sich ihrer freundlich angenommen und sie in ihren Kreis hineingezogen, wogegen sie sich
    über den Kreis der Gräfin Lydia Iwanowna lustig machte.
    »Wenn ich einmal alt und häßlich sein werde, dann werde ich auch so eine werden«, sagte Betsy; »aber für eine so
    junge, schöne Frau wie Sie ist es noch zu früh, in dieses Spittel zu gehen.«
    Anna hatte in der ersten Zeit soviel wie möglich diesen Kreis der Fürstin Twerskaja gemieden, da er Ausgaben
    erforderte, die über ihre Mittel hinausgingen; und auch nach ihrem persönlichen Geschmacke hatte sie den an zweiter
    Stelle genannten vorgezogen. Aber nach der Moskauer Reise war bei ihr ein Umschwung eingetreten. Sie zog sich von
    ihren sittenstrengen Freunden zurück und verkehrte mehr in der großen Welt. Dort traf sie öfters mit Wronski
    zusammen und machte bei diesen Begegnungen immer eine freudige Erregung durch. Besonders häufig traf sie ihn bei
    Betsy, die eine geborene Wronskaja und seine Cousine war. Wronski war überall, wo er nur erwarten konnte, Anna zu
    finden, und sprach, sooft sich die Möglichkeit dazu bot, zu ihr von seiner Liebe. Sie gab ihm zwar keinen Anlaß zu
    solchen Reden; aber jedesmal, wenn sie mit ihm zusammentraf, flammte in ihrer Seele eben jenes selbe Gefühl
    gesteigerter Lebensfreude auf, das an jenem Tage im Eisenbahnwagen über sie gekommen war, als sie ihn zum ersten
    Mal erblickt hatte. Sie merkte es selbst, wie bei seinem Anblicke die Freude ihr aus den Augen leuchtete und ihre
    Lippen lächeln ließ; aber sie war nicht imstande, die Äußerung dieser Freude zu unterdrücken.
    In der ersten Zeit hatte Anna aufrichtig geglaubt, daß sie ihm zürne, weil er es wage, sie zu verfolgen; aber
    als sie einmal bald nach ihrer Rückkehr aus Moskau eine

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