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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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mit welcher Lust und Liebe! Es war ihr, wie wenn eine eisige Hand nach
    ihrem Herzen griffe, als sie nun Kitty erblickte, die auf einem niedrigen Stuhle unmittelbar neben der Tür saß und
    ihre starren Augen auf eine Ecke des Teppichs gerichtet hielt. Kitty sah zu ihrer Schwester auf; aber der kalte,
    finstere Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich nicht.
    »Ich gehe jetzt und werde lange das Haus nicht verlassen können, und du wirst nicht zu mir kommen dürfen«, sagte
    Dolly und setzte sich neben sie. »Ich möchte gern noch ein paar Worte mit dir sprechen.«
    »Worüber?« fragte Kitty hastig und hob erschrocken den Kopf in die Höhe.
    »Worüber sonst als über deinen Kummer?«
    »Ich habe keinen Kummer.«
    »Rede nicht so, Kitty! Meinst du wirklich, das könnte mir verborgen bleiben? Ich weiß alles. Aber glaube mir,
    die Sache ist so geringfügig. Wir haben alle so etwas durchgemacht.«
    Kitty schwieg; ihr Gesicht hatte einen strengen Ausdruck.
    »Er ist nicht wert, daß du dich so um ihn grämst«, fuhr Dolly fort, um geradenwegs zur Sache zu kommen.
    »Du meinst, weil er mich verschmäht hat«, erwiderte Kitty; ihre Stimme bebte. »Sprich nicht davon, bitte, sprich
    nicht davon!«
    »Wer hat dir denn das gesagt? So etwas hat kein Mensch gesagt. Ich bin überzeugt, daß er in dich verliebt war
    und auch jetzt noch in dich verliebt ist; aber ...«
    »Ach, am allerschrecklichsten ist mir dieses Bedauertwerden!« rief Kitty in plötzlich ausbrechendem Zorn. Sie
    drehte sich auf dem Stuhle hin und her, errötete und arbeitete hastig mit den Fingern, indem sie bald mit der
    einen, bald mit der anderen Hand an der Gürtelschnalle drückte, die sie fest gefaßt hielt. Dolly kannte diese
    Angewohnheit ihrer Schwester, mit den Händen um sich zu greifen, wenn sie in Hitze geriet; sie wußte, daß Kitty in
    solchen Augenblicken der Aufregung imstande war, sich zu vergessen und scharfe Worte zu gebrauchen, die besser
    ungesprochen blieben; so wollte denn Dolly sie beruhigen; aber es war bereits zu spät.
    »Ja, was ... was willst du mir denn damit zu verstehen geben?« sagte Kitty hastig. »Meinst du, ich hätte mich in
    einen Menschen verliebt, der nichts von mir wissen will, und ich stürbe nun an dieser Liebe zu ihm? Und das sagt
    mir meine Schwester und glaubt dabei, daß ... daß ... daß sie mir ihre Teilnahme ausdrückt! Ich mag dieses
    erheuchelte Mitleid nicht!«
    »Kitty, du bist ungerecht.«
    »Warum quälst du mich?«
    »Aber ich will ja ganz im Gegenteil ... Ich sehe, du bist erbittert.«
    Aber Kitty hörte in ihrer Aufregung gar nicht auf sie.
    »Ich habe gar keinen Grund, mich zu grämen und mich trösten zu lassen. Ich besitze meinen Stolz, und es wird mir
    nie in den Sinn kommen, einen Menschen zu lieben, der mich nicht liebt.«
    »Aber das sage ich ja auch gar nicht«, suchte Dolly sie zu beschwichtigen und ergriff ihre Hand. »Nur eines
    möchte ich dich fragen, aber sage mir die Wahrheit! Sag, hat Ljewin mit dir gesprochen?«
    Diese Erinnerung an Ljewin schien der armen Kitty den Rest von Selbstbeherrschung zu rauben; sie sprang vom
    Stuhle auf, schleuderte die Schnalle auf den Boden und rief unter wilden Handbewegungen ihrer Schwester zu:
    »Was soll dabei nun noch Ljewin? Ich verstehe nicht, was du davon hast, mich zu quälen! Ich habe dir schon
    gesagt und sage es noch einmal, daß ich meinen Stolz besitze und niemals, niemals imstande wäre, zu tun, was du
    tust: zu einem Manne zurückzukehren, der dir untreu geworden ist und sich in eine andere Frau verliebt hat. Dafür
    habe ich kein Verständnis! Du kannst das, aber ich kann es nicht!«
    Nachdem sie diese Worte hervorgesprudelt hatte, warf sie einen Blick auf ihre Schwester, und als sie sah, daß
    diese schwieg und traurig den Kopf sinken ließ, da setzte sich Kitty, anstatt, wie sie beabsichtigt hatte, aus dem
    Zimmer zu gehen, wieder auf den Stuhl an der Tür, verbarg ihr Gesicht im Taschentuche und beugte den Kopf tief
    hinunter.
    Das Schweigen dauerte mehrere Minuten. Dolly dachte an sich selbst. Ihre Demütigung, die sie stets empfand, war
    ihr dadurch, daß die Schwester sie daran erinnert hatte, besonders schmerzlich zum Bewußtsein gekommen. Eine solche
    Grausamkeit hatte sie von der Schwester nicht erwartet, und sie zürnte ihr deswegen. Aber plötzlich hörte sie das
    Rascheln eines Kleides und zugleich den Ton eines hervorbrechenden und dann verhaltenen Schluchzens; zwei Arme
    umschlangen von unten her ihren Hals. Kitty lag vor

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