Anna Karenina
immer.« Und nun
folgte eine Reihe von Vorwürfen.
Der Fürst hörte diese Vorwürfe ziemlich lange an, ohne ein Wort darauf zu erwidern, aber sein Gesicht wurde
immer finsterer.
»Sie ist in einem so bedauernswerten Zustande, das arme Kind«, sagte die Fürstin; »aber du merkst gar nicht, daß
ihr jede Anspielung auf die Ursache ihres Kummers schmerzlich ist. Ach, wie man sich in den Menschen irren kann!«
An dem veränderten Tone, in dem sie die letzten Worte sprach, merkten Dolly und der Fürst, daß sie Wronski meinte.
»Es ist mir unbegreiflich, daß es keine Gesetze gegen so schändliche, unedle Menschen gibt.«
»Ich mag das gar nicht mehr anhören!« erwiderte der Fürst finster und stand von seinem Sessel auf, als ob er
hinausgehen wollte; aber an der Tür blieb er stehen. »Gesetze gibt es schon, Mütterchen; aber da du mich nun doch
einmal dazu herausforderst, offen zu sein, so will ich dir sagen, wer an alledem schuld ist: du, du, du allein!
Gesetze gegen solche Herrchen hat es immer gegeben und gibt es auch jetzt! Jawohl, wäre nicht von deiner Seite in
einer Weise verfahren worden, wie nicht hätte verfahren werden dürfen, – ich bin ein alter Mann, aber ich würde ihn
vor meine Pistole fordern, diesen Gecken. Ja, und jetzt kuriert nur an ihr herum und laßt diese Pfuscher von Ärzten
kommen!«
Der Fürst hatte, wie es schien, noch vieles auf dem Herzen, was er sagen wollte; aber sobald die Fürstin diesen
Ton von ihm hörte, ging es wie immer bei solchen ernsten Fragen: sie fügte sich ihrem Manne und sah reumütig ihr
Unrecht ein.
»Alexander, Alexander!« flüsterte sie, trat einen Schritt auf ihn zu und brach in Tränen aus.
Sobald der Fürst sie weinen sah, wurde auch er ruhiger. Er ging zu ihr hin.
»Nun, wollen's gut sein lassen, wollen's gut sein lassen! Dir ist auch schwer ums Herz, das weiß ich. Aber was
ist zu machen? So sehr groß ist ja das Unglück noch nicht. Gott ist barmherzig. – Danke, danke!« sagte er, ohne
selbst recht zu wissen, was er sprach, als Antwort auf den tränenfeuchten Kuß der Fürstin, den er auf seiner Hand
fühlte. Und der Fürst verließ das Zimmer.
Schon vorher, als Kitty weinend hinausgelaufen war, hatte Dolly mit dem geübten Blick der Mutter und Hausfrau
sogleich erkannt, daß hier Frauenwerk zu tun sei, und sich vorgenommen, dieses Werk zu verrichten. Nun nahm sie den
Hut ab, streifte sich, in geistigem Sinne gesagt, die Ärmel in die Höhe und rüstete sich zur Tat. Während die
Mutter auf den Vater schalt, hatte Dolly, soweit das die kindliche Ehrerbietung erlaubte, die Mutter zurückzuhalten
versucht. Während dann der Fürst seinem Ingrimm Luft machte, hatte sie geschwiegen und sich für ihre Mutter
geschämt; mit zärtlicher Bewunderung hatte sie auf ihren Vater geblickt, als dieser so bald wieder gut und
freundlich wurde. Aber als nun der Vater hinausgegangen war, da schickte sie sich an, das Wichtigste zu tun, was
jetzt nötig war: zu Kitty zu gehen und sie zu beruhigen.
»Ich wollte Ihnen schon lange etwas sagen, maman: Wissen Sie wohl, daß Ljewin, als er das letzte Mal hier war,
Kitty seine Hand anbieten wollte? Er hatte es vorher zu Stiwa gesagt.«
»Nun, und was weiter? Ich verstehe nicht ...«
»Da hat ihm Kitty vielleicht einen Korb gegeben? Hat sie Ihnen nichts davon gesagt?«
»Nein, sie hat nichts gesagt, weder über den einen noch über den anderen; dazu ist sie zu stolz. Aber ich weiß,
daß alles davon hergekommen ist.«
»Sicherlich; aber denken Sie nur, wenn sie wirklich Ljewin abgewiesen hat ... Sie hätte das bestimmt nie getan,
wenn nicht dieser andere gewesen wäre, das weiß ich. Und nun hat der sie so schändlich getäuscht!«
Der Fürstin war es gar zu peinlich, daran denken zu müssen, eine wie schwere Schuld sie ihrer Tochter gegenüber
auf sich geladen hatte, und sie wurde zornig.
»Ach, ich verstehe die Welt gar nicht mehr! Heutzutage wollen die Kinder immer nach ihrem eigenen Kopfe leben;
der Mutter wird nichts mehr gesagt, und dann, ehe man es sich versieht ...«
»Maman, ich will zu ihr gehen.«
»Nun, dann geh doch! Verbiete ich's dir?« erwiderte die Mutter.
3
Als Dolly in Kittys hübsches, rosafarbenes, mit Figürchen von vieux saxe 1 geschmücktes Zimmerchen trat, das ebenso hübsch, rosig und heiter aussah, wie es
Kitty selbst noch vor zwei Monaten gewesen war, da erinnerte sie sich daran, wie sie beide zusammen im vorigen
Jahre dieses Zimmerchen eingerichtet hatten,
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