Anna Karenina
ihr auf den Knien.
»Liebe Dolly! Ich bin ja so unglücklich, so unglücklich!« flüsterte sie reumütig.
Und sie verbarg ihr liebes, von Tränen überströmtes Gesichtchen in Dollys Schoße.
Als ob die Tränen das unentbehrliche Öl wären, ohne das die Maschine des wechselseitigen Verkehrs zwischen den
beiden Schwestern nicht ordentlich gehen könnte, setzten sie, nachdem sie sich ausgeweint hatten, ihr Gespräch
fort, und obwohl sie nicht von dem sprachen, was ihnen das Wichtigste war, sondern von Nebendingen, so verstanden
sie einander doch vollkommen. Kitty fühlte, daß das, was sie im Zorn über die Untreue von Dollys Mann und über
deren Erniedrigung gesagt hatte, ihre arme Schwester im tiefsten Herzen verwundet haben mußte, daß aber diese es
ihr verziehen habe. Dolly ihrerseits kam über alles ins klare, was sie hatte wissen wollen; sie überzeugte sich
nun, daß ihre Vermutungen richtig gewesen waren und daß Kittys Kummer, Kittys unheilbarer Kummer eben darin
bestand, daß Ljewin ihr einen Antrag gemacht und sie ihn abgewiesen und Wronski sie getäuscht hatte und sie nun
bereit war, Ljewin zu lieben und Wronski zu hassen. Aber Kitty sagte darüber kein Wort; sie sprach nur von ihrem
Seelenzustand.
»Kummer habe ich gar nicht«, sagte sie, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte. »Aber du kannst dir wohl
denken, daß mir alles verächtlich, widerwärtig, zum Ekel geworden ist und zuallererst ich mir selbst. Du kannst dir
gar nicht vorstellen, was für abscheuliche Gedanken ich jetzt über alle Dinge habe.«
»Was für abscheuliche Gedanken kannst du denn haben?« fragte Dolly lächelnd.
»Die allerabscheulichsten und garstigsten; ich kann es dir gar nicht sagen. Es ist bei mir nicht Gram oder
Verdruß, sondern etwas weit Schlimmeres. Es ist, als ob alles, was in mir Gutes war, sich versteckt hätte und nur
das Abscheulichste zurückgeblieben wäre. Ja, wie soll ich dir das nur deutlich machen?« fuhr sie fort, als sie den
Ausdruck der Verständnislosigkeit in den Augen der Schwester wahrnahm. »Sobald Papa mit mir zu sprechen anfängt,
habe ich sofort die Vorstellung, als dächte er einzig und allein daran, daß ich mich verheiraten müsse. Oder wenn
Mama mich auf einen Ball führt, so bilde ich mir ein, daß sie das lediglich tut, um mir möglichst schnell einen
Mann zu verschaffen und mich los zu werden. Ich weiß, daß das alles nicht wahr ist; aber ich kann mich von diesen
Gedanken nicht frei machen. Die sogenannten Heiratskandidaten mag ich gar nicht ansehen. Ich habe eine Empfindung,
als ob sie mir Maß nähmen. Früher war es für mich ein harmloses Vergnügen, im Ballkleid irgendwohin zu fahren; ich
freute mich über meine eigene Erscheinung; aber jetzt schäme ich mich und fühle mich verlegen. Nun, und was sagst
du dazu: der Arzt ... Ja, und ...«
Kitty stockte; sie hatte noch weiter sagen wollen, daß, seitdem in ihrem Inneren sich diese Veränderung
vollzogen habe, auch Stepan Arkadjewitsch ihr in unerträglichem Maße unangenehm geworden sei und daß sein Anblick
bei ihr stets die häßlichsten, widerwärtigsten Vorstellungen erwecke.
»Ja, das ist es«, fuhr sie fort. »Alles erscheint mir im garstigsten, häßlichsten Lichte. Das ist meine
Krankheit. Vielleicht geht es vorüber.«
»Du mußt nicht daran denken.«
»Das liegt nicht in meiner Macht. Nur wenn ich mit den Kindern zusammen bin, fühle ich mich wohl, nur bei
dir.«
»Schade, daß du nun längere Zeit nicht wirst zu mir kommen dürfen!«
»Oh, ich komme doch! Scharlach habe ich gehabt; bei Mama werde ich es schon durchsetzen.«
Kitty bekam ihren Willen und siedelte zu der Schwester über und pflegte die Kinder während der ganzen Dauer des
Scharlachfiebers; denn als solches entpuppte sich die Krankheit. Die beiden Schwestern brachten alle sechs Kinder
glücklich durch; aber Kittys Gesundheitszustand besserte sich nicht, und zur Zeit der großen Fasten reiste die
Familie Schtscherbazki ins Ausland.
Fußnoten
1 (frz.) von altem Porzellan.
4
Die höhere Gesellschaft in Petersburg bildete eigentlich nur einen einzigen Kreis, in dem alle sich gegenseitig
kennen, ja sogar sich gegenseitig besuchen. Aber in diesem großen Kreise gibt es besondere Abteilungen. Anna
Arkadjewna Karenina hatte Freunde und nähere Beziehungen in drei verschiedenen Kreisen. Der eine von ihnen war der
dienstliche, offizielle Umgangskreis ihres Mannes und bestand aus dessen Kollegen und Untergebenen, die
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