Anna Marx 9: Feuer bitte
Mutter wurde, war sie eine bisexuelle Allesfresserin, doch nun scheint sie von Sex so weit entfernt wie die Erde von der Sonne. »Was macht deine Feindberührung?«, fragt Freddy tückisch, als Anna mit einem Tablett aus der Küche kommt.
Fjodor schielt auf den Käse. Eine göttliche Stimme wie seine braucht Nahrung. »Er hat sie in der Laterne geküsst – wie Lili Marleen.« Ein wunderbares Lied, und alles, was danach an Schlagern kam, war nur noch Schrott. Fjodor hat Anna und den Mann observiert, als die beiden nach Hause kamen, zu später Stunde, und sie stiegen die Treppen gemeinsam hoch, was zu verraten einem noblen Mann unmöglich wäre. Anna sieht ihn jetzt an, als ob sie ihn töten wollte. Sagt: »Ich wünschte, dein Gesang wäre so gut wie dein Deutsch. Wie lange lebst du schon in Berlin – zehn Jahre?«
Zwölf Jahre. Fjodor verzichtet auf eine Antwort, denn Anna Marx ist keine musikalische Kapazität. Taub wie Beethoven. Zickig wie die Callas, nur leider ohne Gesang. Aber sie hat ein großes Herz, und er liebt sie auf seine impotente Art, selbst wenn ihre Rauchschwaden seine Stimmbänder in den Ruin treiben. Ein Russe im Exil braucht viele Freunde, die ihn füttern und tränken. Er nimmt sich Käse vom Tablett, während Freddy den Rotwein öffnet und Anna und Sibylle miteinander flüstern.
»Du hast diesen Liebling ge …?«
»Gewas … auch immer: Nein.«
Anna lügt. Sie hat. Und einen Teufel wird sie tun, dies zu erzählen. Weil sie sich ein bisschen schämt, man könnte niedrige Beweggründe unterstellen, da sie doch mit dem Mann geschlafen hat, dem sie viel Geld schuldet. »War nur ein harmloser Abschiedskuss nach einem wundervollen Essen im ›Margaux‹.«
»Sah aber nicht dergleichen aus«, wirft Fjodor ein und stiehlt noch ein Stück Käse. Anna hat große Lust, seine weiche, weiße Hand mit der Gabel aufzuspießen. »Du bist ein russischer Spion. Und von Sex verstehst du gar nichts.«
»Ich bin nur unten impotent, meine Liebe. Mein Kopf ist sehr sexy.« Fjodors leicht hervorquellende Augen mustern Annas Oberkörper. »Und du hast immer einen Knopf zu viel offen. Du wirst dich erkälten, mich anstecken und meine Stimmbänder morden.«
»Ist er in dich verliebt?«, fragt Sibylle. Sie meint Liebling, doch Fjodor fühlt sich angesprochen. »Sie ist meine Angebetete, doch leider stinkt sie wie eine Räucherkammer. Du wirst sterben, Anna, und ich werde dir weiße Orchideen aufs Grab legen. Und Mozarts ›Requiem‹ singen. Alle werden weinen. Ich auch.«
Anna verdrängt die Vorstellung ihrer letzten Party und greift nach dem Glas. Wein auf Bier, das rat ich dir. Einer der tausend Sprüche ihrer Mutter, die an Krebs gestorben war, bevor Anna ihr sagen konnte, dass sie sie trotz allem liebte. So vieles, das sie bedauert, auch, dass sie Martin Lieblings Verführungskünsten so schnell erlegen ist. Oder war es umgekehrt? Sie haben beide ganz sicher zu viel getrunken, und sie wollten nicht, dass der Abend endet, und hatten Angst vor dem Alleinsein. Das war’s auch schon. Nein, er ist nicht verliebt, denkt Anna, er hat nur mitgenommen, was er gerade kriegen konnte. Und ich auch, womit wir einander verdienen, gewissermaßen. Martin Liebling ist jetzt wieder in Brüssel, und er hat sich nach der Nacht nicht mehr gemeldet, nur Blumen schicken lassen, nachdem er im Morgengrauen gegangen war, als Anna noch schnarchend im Bett lag. Vermutlich hat sie geschnarcht, tut sie immer, wenn sie zu viel getrunken hat. Es waren siebzehn rote Rosen, und sie hatte keine passende Vase und stellte sie in den Putzeimer.
Es war guter Sex, nicht von großer Leidenschaft getragen, sondern eher von flüchtigem Verlangen und behutsamer Zuneigung. Sie haben beide sehr gelacht, als Liebling aus dem Bett fiel, dabei die Nachttischlampe umwarf und einen Kurzschluss auslöste. Der zweite Verkehrsunfall, den sie mit ihm erlebte, war eindeutig komischer, doch danach war die Erotik zum Teufel. Sie rauchten noch eine Zigarette im Bett, versicherten einander, dass sie das allein nie tun würden, und schliefen Rücken an Rücken ein. Annas letzter Gedanke vor dem großen Schlaf war die Horrorvorstellung, neben einem fremden Mann im harten Morgenlicht aufzuwachen. Nun, das hat er mit seinem frühzeitigen Abgang abgewendet. Gut möglich, dass sie ihn nie wieder sieht. Aber eigentlich schade. Sie hatten Spaß miteinander, so viel, wie Fremde haben können, die einander sympathisch und nicht gänzlich unerotisch finden.
»Wirst du ihn
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