Anna Marx 9: Feuer bitte
vollkommen in seinen Unregelmäßigkeiten, will ich als erstes sehen, wenn die Passagiere durch die Glastür ins Freie kommen …
Liebling träumt und trinkt warmen Rotwein, als sich ein anderes Gesicht vor Annas schiebt: Der österreichische Abgeordnete schwebt durch die Kantine, der selbst ernannte Brüsseler Spesenrevolutionär und Privilegienterminator. Hat er wirklich abgehoben? Nein, er tänzelt nur, und ihm fehlt seine Leibgarde, die Journalisten mit den Kameras und Mikrofonen, die den Parlamentariern vor den Wahlen die Hölle heiß machen. Sind die pauschalen Tagesspesen gerechtfertigt, die Abgeordnete in Brüssel und Straßburg kassieren? Legal, egal, Hauptsache, die Presse zieht ihre Spesenkampagne durch, und der Mann in dem beigen Jopperl wärmt sich am Fegefeuer seiner Eitelkeiten. Dass ihn seine Partei gefeuert hat, scheint ihn nicht zu stören. Er ist ein Kreuzzügler, ein Märtyrer, ein Fanatiker – und um seinesgleichen hat Liebling immer einen großen Bogen gemacht. Weil man gegen sie nur verlieren kann …
Eine Welle der Abneigung begleitet den Weg des Abgeordneten durch die Parlamentskantine, und Liebling sieht zur Seite, um ihn nicht grüßen zu müssen. Meide Menschen, die keinen Funken Humor besitzen, diese Regel hat er zumindest in seinem Privatleben konsequent verfolgt. Helena, seine Frau, lachte gerne und sah sehr hübsch dabei aus. Sie war fröhlich, als sie von Liebling Abschied nahm, fast beiläufig und ohne Bedauern, denn sie war eine herzlose Person. Viel zu schön, um sich mit Fragen der Moral zu beschäftigen.
Hasst er sie immer noch? Liebling drängt diesen Gedanken in den Müllhaufen unbeantworteter Lebensfragen. Er ist ziemlich groß, dieser Haufen, und niemand außer ihm selbst nimmt den Gestank wahr. Liebling ist ein diskreter Mann mit guten Manieren und teurem Aftershave. Anna sagt, dass sie ihn gut riechen kann. Sie sagt eine Reihe von reizenden Dingen, doch das Wort »Liebe« ist zwischen ihnen nicht gefallen. Vielleicht sind sie beide zu alt für den romantischen Sprachschatz.
Wie kommt er überhaupt dazu, sich mit einer älteren Dame einzulassen? Überall sitzen sie, die hübschen jungen Dinger, haben studiert, sind vielsprachig und prinzipiell willig, auf die eine oder andere Weise Karriere zu machen. Der Duft der Frauen, die Schwäche für Todsünde halten, erfüllt den Raum. Er ist müde, vom guten Leben betrunken, zu träge, sich selbst oder gar den Rest der Welt verändern zu wollen.
Vielleicht ist es das, was Anna und ihn verbindet: die Angst vor der fliehenden Zeit. Die jungen Damen verstehen das nicht, weil sie sich für unsterblich halten. Und er dachte immer, dass er ein Stück dieser Zuversicht stehlen kann, wenn er sich mit ihnen einlässt. Falsch gedacht, dieses Gefühl hielt nur sehr kurz und mündete stets in Überdruss und Melancholie. Das Leben darf alles sein, nur nicht langweilig: ein Motto seiner Ex. Er wünscht ihr einen aufregenden Tod.
Der Österreicher mit dem eingefrorenen Lächeln ist die einsamste Figur in Brüssel, hat er es doch geschafft, die Parlamentarier aller Fraktionen und Länder gegen sich aufzubringen. Europas Spesenburg hält zusammen, doch »die Hose«, so sein Spitzname, hat einen Stein ins Rollen gebracht. Sie werden die Spesenregelungen ändern, um die Pressekampagne zu stoppen. Wahlen wollen gewonnen werden, und viele Abgeordnete aus dem sozialistischen Lager zittern um ihr Mandat. Mein Gott, es gäbe einiges aufzudecken in Brüssel, doch die Journaille schießt sich auf Spesen ein. Kassieren selber welche, die Journalisten, aber das steht auf einem anderen Blatt und nicht in ihren Blättern. Wie weit müsste sich der Brüsseler Apparat noch aufblähen, wenn 732 Abgeordnete aus 25 Ländern penibel ihre Reisespesen abrechnen?
Unterm Strich würde es vermutlich teurer werden, denkt Liebling, und dann, dass es nicht sein Problem ist. Er kassiert keine Spesen, sondern Honorare – und sie sind fett, fetter am fettesten. Zusammen mit dem Erbe besitzt er mehr Geld, als er vernünftig ausgeben könnte. Ein kleines Problem nagt allerdings an seinem Seelenfrieden. Die verschwundene Diskette.
In einer Welt, in der alles so klein geworden ist, gehen Dinge leichter verloren. Ständig sucht er sein Handy, seinen Palm, die Brille, die Aufladegeräte … seine Integrität. Das Kleinste von allem, und auch dieser Gedanke landet auf Lieblings Müllhaufen … Everybody’s Asshole hat ihn seine Frau genannt. Am Anfang ihrer Beziehung war er
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