Anna Marx 9: Feuer bitte
hat alle Lebensmittel, die in der Wohnung waren, mitgenommen. »Nichts verkommen lassen« ist eine ihrer Redensarten. Wohl mehr auf Dinge bezogen als auf Menschen, denkt Anna, die auf Julias Seite steht.
Im Schlafzimmerschrank findet sie, was sie braucht, um einigermaßen trocken bis zur Bushaltestelle zu kommen. Sie hat die Wahl zwischen Knirps und Schirm und wählt Letzteren. Knirpse neigen, zumindest in Annas Händen, zu tückischem Widerstand. Der Schirm steht auf einer Hutschachtel, die Anna bei ihrem ersten Gang durch die Wohnung dort nicht aufgefallen war. Vielleicht hat die Schwester sie in den Schrank gestellt. Anna ist viel zu neugierig, um die Schachtel nicht zu öffnen. Es gab Zeiten, da hat sie Hüte getragen, passend zu Kostümen, in den Bonner Zeiten, als sie noch auf angemessene Garderobe achten musste. Inzwischen trägt sie nur noch den Schlapphut, alt wie der Trenchcoat, vielleicht, weil ihr dies das Gefühl gibt, auf Marlowes Spuren zu wandeln. Was reichlich anmaßend ist.
Kein Hut ist in der Schachtel, sondern Fotos. Kinder- und Jugendbilder der üblichen Art, das Hochzeitsfoto. Winfried lächelt nicht. Julia trägt keine Zahnspange mehr. Sie waren einmal in Italien am Strand und sehen aus wie zwei unglückliche Hummer. Fotos von Familienfesten, Ausflügen und Bergwanderungen. Auf vergilbten Bildern blicken Verwandte ernst und würdig in die Kamera. Die meisten der Abgelichteten kann Anna nicht zuordnen, doch es ist keiner dabei, der nach ihrem Ermessen wie ein Heiratsschwindler aussieht.
Anna bleibt an einem Foto hängen, das auf einem Schiff aufgenommen wurde. Es ist nicht besonders scharf, weil gegen die Sonne fotografiert wurde. Ein Schnappschuss. Das Bild zeigt Julia Mauz und einen unbekannten Mann. Nein, sie kennt ihn. Er trägt eine Sonnenbrille und grinst neben Julia in die Kamera. Die Brille verdeckt einen Teil seines Gesichts, doch …
Anna hält die Luft an. Ihr Magen schmerzt. Sie hat Hunger, aber das ist es nicht. Das Foto zeigt Liebling. Er sieht sich kaum ähnlich, was an der Brille und den zerzausten Haaren liegt. Doch Anna ist ihrer Sache sicher: Der Mann auf dem Schiff neben Julia Mauz ist Martin Liebling.
9. Kapitel
»Der Kommissar muss weg.«
Mildes Erstaunen ist die angemessene Mimik, denkt Martin Liebling und zieht seineAugenbrauen nach oben. Er ist nicht im Mindesten überrascht, ganz im Gegenteil: Er hat diesen Satz schon vor dem Dessert erwartet. Alles, was John Schultz während der vier Gänge sagte, führte exakt in diese Richtung. Amerikaner seines Typs kommen immer zum Punkt, weil sie die Zwischentöne so gering achten. Schade eigentlich, Liebling fand Wortakrobatik immer recht amüsant. Die Kunst der Verschleierung gegen die Axt der Wahrheit. Zeit ist Geld, und die meisten Vertreter der Neuen Welt sind ungehobelte Mistkerle von scharfem Verstand. Der geeiste Kaiserschmarrn schmilzt in Lieblings leicht geöffnetem Mund. Mildes Erstaunen. Er sieht in hellbraune, fast gelbe Kojotenaugen und murmelt: »Sie überschätzen meine bescheidenen Fähigkeiten.«
Er nippt nur am teuren Bordeaux. Es gibt keine billigen Weine im »Crocodile«, denn dies ist die feinste Adresse Straßburgs. Das Lokal der kleinen Gefälligkeiten zu großen Preisen. Bangemann pflegte hier zu speisen, der Kommissar, der sich in europäische Telefonnetzwerke verstrickte. Das Krokodil ist ein gefräßiges Tier, und die Männer, die hier dinieren, haben den Hang zu fetter Beute.
John Schultz ist Vertreter eines amerikanischen Tabakkonzerns, er hat sich Liebling als »Senior Consultant« vorgestellt und ihn zum Essen ins »Crocodile« eingeladen. Er schaufelte das Zwei-Sterne-Essen in sich hinein, als ob er in einem Fastfoodladen säße. Den Wein trinkt er wie Bier in durstigen Schlucken.
Keine Manieren, keine Skrupel und die Selbstsicherheit eines Mannes, der viel Geld hinter sich hat: Schultz, wenn der Name denn stimmt, ist neu in der Brüssel-Straßburg-Szene. Dass niemand etwas über ihn weiß, macht Liebling nervös. Er schätzt es, seine Feinde zu kennen, bevor er sich mit ihnen einlässt. John Schultz hat ihm einen Beratervertrag angeboten, an dessen Ende eine astronomisch hohe Zahl steht. Ich sollte ablehnen, aufstehen und gehen, denkt Liebling. Sein Dessertteller ist leer. Sein Konto ist gefüllt. Doch Gier, gepaart mit Neugierde, bannt ihn auf seinen Stuhl.
»Ich erwarte ja nicht, dass Sie ihn abknallen«, sagt Schultz eine Spur zu laut. Sein Lachen dröhnt durchs Lokal, und für einen
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