Anna Marx 9: Feuer bitte
nicht einmal ein Dichter. Doch unter anderen Umständen würde sie ihn mögen. Denn Josef ist auf altmodische Art höflich und liebenswürdig. Einer, der Frauen das Gefühl gibt, dass er sie schätzt und verehrt. Er ist ein sinnlicher Mann, und ein bisschen verrückt ist er auch. Auf diesen Typus hat Anna Marx stets mit gewisser Schwäche reagiert. Es ist einfach, Menschen über den Umweg der Liebe ins Verderben zu führen.
An Fingerabdrücke denkt sie erst jetzt: Anna steckt das Bändchen in eine Plastiktüte – für alle Fälle, und obwohl sie mit ihren Abdrücken vermutlich alles Brauchbare ruiniert hat. Warum sie weitersucht, weiß sie nicht, doch sie tut es, greift wahllos in die Regale und entdeckt immerhin, dass Julia Bücher auch als Ablage genutzt hat. Anna findet alte Fotos zwischen den Seiten: Julia mit Zahnspange und gequältem Lächeln, und daneben ihre Schwester, die so hübsch in die Kamera lächelt. In der »Päpstin« sind alte Rechnungen verborgen, und im »Medicus« stecken Ansichtskarten, die Winfried an seine Frau geschickt hat. Insektenmotive, offenbar hat er sich mit nichts anderem beschäftigt, und seine Botschaften sind so belanglos, dass sie das Porto nicht wert sind.
Warum schicken Leute Ansichtskarten? Anna hat es nie getan, und alle, die sie je erhalten hat, landeten nach kurzem Überfliegen im Papierkorb. Sie legt Winfrieds »Grüße aus der Ferne« in das Buch zurück. Der Mann, der im Amazonasgebiet verschwunden ist und nach Ablauf der gesetzlichen Frist für tot erklärt wurde. Auf den Fotografien sieht er aus wie eine missglückte Kreuzung aus Intellektuellem und Bergsteiger. Große, verwunderte Augen und ein zu kleiner Kopf über einem mächtigen, durchtrainierten Körper. Im Einzelnen betrachtet ein attraktiver Mann, doch in der Zusammensetzung seltsam. Winfried lächelt nie, auf keinem einzigen Foto.
»Eine Anaconda« hat Eva Mauz ihn einmal genannt. Er war mit seinem Boot allein auf dem Fluss unterwegs – und kehrte nie zum Lager zurück. Ertrunken, erschlagen, an einem Herzinfarkt verstorben, von Piranhas gefressen … den Todesphantasien sind keine Grenzen gesetzt.
Möglich ist natürlich auch, dass Winfried noch lebt, irgendwo, irgendwie. Inmitten der flatternden, kriechenden, fliegenden, zirpenden Tierwelt, die einer Sammlung toter Insekten vielleicht vorzuziehen ist. Wenn man es mag. Anna hat sich als Kind vor Regenwürmern und Nacktschnecken gefürchtet, doch konnte sie stundenlang einer Spinne in ihrem Netz zusehen. Die Geduld des langen Betrachtens hat sie in ihren Jahren als Journalistin verloren. Alles musste schnell gehen, schließlich schrieb sie für eine Tageszeitung. Als Detektivin hat Anna wieder gelernt, still zu stehen. Observierung ist vor allem ein Geduldspiel, und Ehemänner auf sexuellen Abwegen sind das harte Brot ihrer beruflichen Existenz, zumindest in den letzten Jahren. Annas Gefühl für Zeit hat sich verändert, und ihre Uhr geht langsamer. Seit zwei Stunden schon blättert sie in Julias Leben und vergisst den Rest der Welt.
In den Jugendbüchern liegen getrocknete Blätter und Blüten. Julia war eine Sammlerin, wahrscheinlich, weil sie ein Kind war, mit dem die anderen nicht spielten. Als Anna »Oliver Twist« zurücklegt und nach einem Bildband über Giftspinnen greift, fällt beim Aufschlagen ein Blatt zu Boden … ein von Hand geschriebener Brief.
Anna hebt ihn auf: Es gab Zeiten, da wurden noch Briefe geschrieben, und sie erkennt Julias Schrift, die winzigen Buchstaben, so ineinander verschlungen, dass sie wie gemalte Miniaturen wirken. Julia hat sich auch hinter ihrer Schrift versteckt. Anna setzt sich auf den Boden. Ihr Kreuz schmerzt vom langen Stehen, doch sie achtet nicht darauf. Vergisst, dass sie eine Zigarettenpause einlegen wollte …
Datum und Anrede fehlen. Der Brief ist nicht an Josef Gangwein oder Winfried gerichtet, das ist Anna nach den ersten Zeilen klar. Dieser Brief ist Julias Abrechnung mit der Schwester.
Ich war wie dein Schatten, schreibt Julia, und selbst diese geisterhafte Existenz hast du mir nicht gegönnt. Ich weiß, dass die Pubertät eine Zeit der Grausamkeiten ist. Doch du hast mich, nur so zum Spaß, dem Hohn und Spott der anderen ausgeliefert. Ich war ein lächerliches Wesen, und Arno Schulz der Einzige, der mich vor den anderen in Schutz nahm. Also habe ich ihn geliebt, den Verlierer, den du niemals zur Kenntnis genommen hättest, wenn er mich nicht gewählt hätte. Du hast ihn mir weggenommen … und
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