Anna Marx 9: Feuer bitte
Augenblick erstirbt das dezente Gemurmel an den Nebentischen. Liebling registriert, wie ihn Wollschläger, einer der mächtigen Direktoren der Brüsseler Kommission, mit verächtlichem Blick streift, bevor er sich wieder seinem Hummer widmet. Wollschläger steht auf der Spendenliste eines Chemiekonzerns, das weiß Liebling aus zuverlässiger Quelle. Der Mann hat kein Recht, auf einen wie ihn herabzusehen. Und doch, es schmerzt manchmal, im Krokodilbecken nicht geachtet zu werden. Liebling wollte einmal ein berühmter Anwalt werden, der Unschuldige vor dem Gefängnis rettet. Jungenträume, er ist viel zu alt geworden, und Krokodile haben eine dicke Haut.
»Wir brauchen einen Kommissar, der sich für die Interessen der Tabakindustrie einsetzt«, sagt Schultz jetzt. Leiser zumindest. »Der Grieche wäre gut. Und der Engländer muss weg. Ihnen muss ich ja wohl nicht sagen, dass er den Deal zwischen der EU und meiner Firma hintertreibt. Und wir wollen diesen Deal. Haben keine Lust auf langwierige Prozesse mit ungewissem Ausgang … obwohl wir selbstredend unschuldig sind.«
Die Unschuldsvermutung liegt Liebling eher fern. Schultz’ Konzern wird beschuldigt, sich am Zigarettenschmuggel zu beteiligen. 400 Milliarden Zigaretten werden jedes Jahr illegal auf den Markt gebracht, eine Zahl, die einfach zu groß ist, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass der eine oder andere Tabakkonzern seine Finger im Spiel hat. Die Firma, die John Schultz ins Rennen schickte, ist zurzeit im Brüsseler Visier. Sie soll am Schmuggelgeschäft über Andorra nach Spanien beteiligt sein. Wenn EU-Ländern Milliarden an Zigarettensteuer entgehen, werden sie penetrant. Aber natürlich ließe sich auch diese Sache mit Geld regeln, dem guten, schönen, alten Kompromiss anstelle der juristischen Konfrontation, die Jahre dauern kann. Bloß der Engländer ist vehement dagegen. Er will die Tabakleute hängen sehen.
»Man muss den Mann verstehen«, sagt Liebling leise. »Seine Frau ist an Lungenkrebs gestorben. Seither führt er so eine Art Privatkrieg gegen die Tabakindustrie.«
»Seine privaten Angelegenheiten interessieren uns nicht«, erwidert Schultz kalt. »Es ist der schädliche Einfluss, den er auf Kommission und Parlament ausübt, den wir unterbinden müssen. Es heißt, dass Sie so eine Art Biograph der Brüsseler Laster sind. Ein bestimmtes Kapitel Ihres Wissens würde uns viel wert sein. Sie haben den Vertrag, den ich Ihnen schickte, sicher sorgfältig gelesen. Die Kohle stimmt doch, oder?«
Viel Geld ist vulgär, denkt Liebling und trinkt den letzten Schluck vom Chateau Latour, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Eine Million Euro ist er ihnen wert. In Schultz’ Kojotenaugen tanzen die Lichter der Versuchung. Er sollte aufstehen und gehen. Liebling stellt sein leeres Glas auf den Tisch. »Es gibt keine Dossiers. Und Erpressung ist nicht mein Gewerbe.«
John Schultz ballt die Faust auf dem Tisch. Er trägt einen unvorstellbar hässlichen Siegelring. »Ach, kommen Sie, Mister Liebling, vergeuden Sie nicht meine Zeit. Ich habe genaue Erkundigungen eingezogen, und ich weiß genau, wen ich vor mir habe. Sie müssen nichts weiter tun für das viele Geld. Wenn ich die Informationen habe, werde ich meine Journalisten auf Trab bringen. Gleichzeitig mit der Medienkampagne läuft natürlich die politische Schiene. Vielleicht könnten wir den Engländer auch ohne Ihre Beratung abschießen, aber ich bin ein Mann, der immer gern mehrere Eisen im Feuer hat. Der Kommissar ist so gut wie tot. Welche Chancen gibt man dem Griechen als seinem Nachfolger?«
»Er ist der ideale Kompromisskandidat«, erwidert Liebling vorsichtig. »Niemand will ihn, aber niemand ist auch wirklich gegen ihn.«
»WIR«, sagt Schultz, »wollen ihn. Der Grieche repräsentiert ein Land der Tabakbauern.«
»Und raucht wie ein Schlot«, fügt Liebling hinzu. Die Faust hat sich wieder geöffnet, und Schultz bestellt Cognac beim Ober, der von unnachahmlicher Arroganz ist. Und gefällig, wie Liebling weiß, der ihn gelegentlich über Gespräche aushorcht, die Gäste miteinander führen.
Der englische Kommissar hat eine somalische Geliebte, die illegal in Brüssel lebt. Er hat ihr einen Job bei einer Werbeagentur besorgt, die manchmal für die Kommission tätig ist. Die Geliebte ist erst siebzehn und betrügt ihn mit einem senegalesischen Straßenmusiker. Liebling kann sich nicht an alle Einzelheiten des Dossiers erinnern, doch diese Informationen hat er im Kopf gespeichert.
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