Anna Marx 9: Feuer bitte
mein dummer Selbstmordversuch war wieder nur … lächerlich. Ein weiterer Grund für euch, mich als Idiotin abzustempeln, und irgendwann glaubte ich daran, dass ich nichts, aber auch nichts richtig machen könne. Jeder Maikäfer, den ihr mir in die Schultasche stecktet, hatte mehr Selbstachtung als ich. Winfried erschien mir als die einzige Chance, dieser Familie, vor allem aber dir zu entkommen. Ich habe ihn nie besonders gemocht, und er mich vermutlich auch nicht. Wir haben nie darüber gesprochen, weil es eine Ehe der verkommenen Floskeln war. Hast du wirklich geglaubt, es würde mich treffen, dass du eine Nacht mit ihm verbracht hast? Er hat es mir gebeichtet, bevor er nach Brasilien flog. Winfried, der Witwentröster, und beinahe hätte ich darüber lachen können. Nur frage ich mich, warum du mich nach all den Jahren immer noch nicht in Ruhe lassen konntest. Ich habe mich doch nie gewehrt, auch nicht, als du das Erbe unserer Eltern so großzügig zu deinen Gunsten geteilt hast. Mutter hätte gewollt, dass du ihren Schmuck bekommst: Vielleicht hattest du damit sogar Recht. Sie war immer auf deiner Seite, und es gibt keine schönen Verlierer. Es tut einfach weh, immer die andere Wange hinzuhalten, irgendwann schmerzt es erbärmlich. Also brauchte ich viele Jahre, um zu verstehen, dass ich dich hasse. Ein Gefühl immerhin. Ich hasse dich von ganzem Herzen, deine Großspurigkeit und deine Dummheit, deinen maßlosen Egoismus und die grandiose Überschätzung deiner Person. Ich hasse deine Bosheit und Unfähigkeit, auf andere Menschen einzugehen. Als du noch jung und hübsch warst, hat man dir all das vielleicht nachgesehen. Jetzt nicht mehr, Eva. Ich verzeihe nichts. Nicht einmal deinen Streich, meine Geburtstagstorte mit Salz zu backen. Ihr habt so gelacht. Meine Kindheit war ein einziges Gelächter – manchmal höre ich es heute noch, und ich schmecke den salzigen Teig auf der Zunge. Die Bitterkeit der vielen Jahre, in denen ich um deine Gunst gebettelt habe – oder zumindest um Mitleid, Nachsicht, Güte. Du besitzt nichts dergleichen, und das Alter hat dich nichts gelehrt außer Heuchelei.
Seit ich weiß, was es heißt, geliebt zu werden, bin ich ein anderer Mensch. Ein ganzer, schöner, guter Mensch, der lieben und hassen kann. Das musste ich dir sagen, nein, schreiben, weil ich dich niemals wieder sehen möchte. Keine Telefonate, keine überraschenden Besuche, keine Einladungen zu einer deiner schrecklichen Gesellschaftsübungen. Dies ist keine Bitte, sondern ein Befehl: Bleib mir vom Leib. Sonst müsste ich dir Schaden zufügen …
Hier bricht der Brief ab. Julia hat ihn nicht unterschrieben, und sie hat ihn offenbar nie abgeschickt. Anna hält ihn so vorsichtig in der Hand, als würde Wahrheit wie Feuer brennen.
Julias Wahrheit. Als sie diese Zeilen schrieb, dachte sie, dass sie geliebt würde und stark genug wäre, mit Eva abzurechnen. Und dann hat sie das Blatt zwischen Giftspinnen gelegt. Vergessen? Nein, eher nicht. Etwas war geschehen, das sie davon abhielt. Das Ende der Liebe. Die Täuschung, die Demütigung, die Aufgabe.
Anna sitzt da und weint. Es gibt keinen Grund, es ist nur Sentimentalität. Sie weint auch bei traurigen Filmen oder Büchern. Das Leben ist nicht fair, und Frauen weinen. Hängen sich auf. Und es ist Zeit für eine Zigarette. Anna geht auf diesen Krücken, solange sie denken kann. Verachtet sich dafür. Manchmal. Es ist so viel einfacher, schwach zu sein. Julia war unnachgiebig gegen sich selbst. Und wohin führt das?
Anna steht am Fenster und sieht in den Himmel, der sich mit Wolken bedeckt hat. Es wird regnen, und sie hat keinen Schirm dabei. Vielleicht findet sich einer in der Wohnung. Ob sie Eva Mauz diesen Brief zeigen soll? Anna neigt dazu und schreckt davor zurück. Da Julia ihn nicht abgeschickt hat, müsste sie eigentlich ihren Willen respektieren. Sie kann das jetzt nicht entscheiden und steckt den Brief in ihre Handtasche. In die »Hautfetzen« von Josef Gangwein, der vielleicht der Mann war, der Julia aus ihrem Winterschlaf geholt hat. Für die Zeit des kurzen Frühlings.
Jetzt fällt der Regen über die Stadt wie ein nasser, grauer Schleier. Anna schließt die Fenster und stöbert weiter im Bücherregal, doch sie findet nichts mehr außer herausgerissenen Briefmarken und getrockneten Blättern. Weil sie hungrig ist, beschließt sie, die Suche für diesen Tag einzustellen. Sie muss jetzt etwas essen, sonst wird sie melancholisch oder gereizt, je nachdem. Eva Mauz
Weitere Kostenlose Bücher