Anna Marx 9: Feuer bitte
Vermutlich würde das, was er weiß, seinem Gesprächspartner genügen. Was zu einer weiteren Frage führt: Wozu braucht er weitere Millionen? Er hat genug Geld. Nun, er könnte mit Anna zwei Wochen nach »Treasure Island« fliegen. 2000 Dollar die Nacht. Die Nächte mit Anna sind schön und warm. Er wünschte, sie wäre hier, und er könnte sie um Rat fragen. Ein interessanter Gedanke: In welchem Verhältnis steht Annas Moral zu sehr viel Geld?
John Schultz hat den alten Cognac in seinen Kaffee gekippt und trinkt die Tasse leer, ohne abzusetzen. Sein »Garçon«, das er dem Ober nachbrüllt, klingt alles andere als französisch. Liebling versucht, seine Abneigung zu neutralisieren. Der Mann macht nur seinen Job. Er hat keine Manieren und keinen Respekt vor der Integrität anderer. Warum sollte er? Seine Firma ist vermutlich nicht nur am Zigarettenschmuggel, sondern auch an Geldwäsche beteiligt. Illegale Zigaretten werden mit illegalem Geld aus Waffen- und Drogenhandel finanziert. An jedem Glimmstängel hängt ein Tröpfchen Blut, wenn man es denn dramatisch sehen möchte. Liebling würde jetzt gerne rauchen, doch Schultz hat ihm, als sie noch nicht saßen, mitgeteilt, dass er leidenschaftlicher Nichtraucher sei. »Die Firma verordnet nur ihren Managern die tödliche Glut«, fügte er lächelnd hinzu. Seine Zähne sind weiß und makellos. Ein attraktiver Mann, wenn die Augen nicht wären. Kojotengelb. Annas Augen sind grün. Smaragde würden ihr gut zu Gesicht stehen. Liebling hegt keine große Zuneigung zu dem Engländer, der dafür bekannt ist, Lobbyisten zu verachten und ihnen aus dem Weg zu gehen, wann immer er kann. Der Idiot muss doch wissen, dass er mit einer illegalen Geliebten, fast noch minderjährig, nicht davonkommt – nicht in dieser Schlangengrube von Gerüchten und Intrigen.
»Nun spannen Sie mich nicht auf die Folter«, sagt Schultz, der die Rechnung prüft, die ihm der Ober gebracht hat. Wenn ihn ihre Höhe schockiert, lässt er sich dies nicht anmerken. Er legt einen Hunderteuroschein auf seine Kreditkarte und fordert einen Beleg für das Trinkgeld. John Schultz zeigt noch einmal seine Zähne: »Bei Spesenabrechnungen kennt die Firma kein Pardon. Nun, werden Sie den Vertrag unterschreiben, Mister Darling?«
Everybody’s Darling: Liebling widerstrebt dem Impuls, den Kopf zu schütteln. »Ich gebe Ihnen morgen Vormittag Bescheid. Vorausgesetzt natürlich, dass ich mit meinen Informationen Ihren Wissensdurst befriedigen kann.«
John Schultz lächelt etwas gequält: »Sie sind ein pain in the ass, Darling, aber ich brauche Sie. Und Sie sollten bei Ihrer Entscheidung nicht vergessen, dass auch andere Tabakleute davon Wind bekommen. Sie sind doch mit denen gut im Geschäft.«
Erpressung, serviert mit Krokodilslächeln, denkt Liebling. Dass jetzt der Grieche ins Lokal kommt, gefolgt von Vertretern des Reedereiverbandes, erscheint ihm als böses Omen. Alles wird so laufen, wie das Geld es will. Und er, Liebling, wird mitkriechen. Die Schleimspur ist schon zu lang, als dass er sich davon noch lösen könnte. Lang und klebrig und süß wie Honig. Annas Lippen schmecken nach Rauch und Schokolade. Er wird ihr eine Kette aus grünen Steinen kaufen und mit ihr auf eine Insel fliegen. Vielleicht ist es gut, dass die Diskette verschwunden ist. Ein Zeichen der Götter, dass man nicht alles wissen darf und dass es Grenzen gibt, die zu überschreiten gefährlich wäre. Die Wahrheit mag den Ausschlag geben. Doch der Stil rettet.
10. Kapitel
Sie hat ihr den Brief nicht gezeigt, er liegt in ihrer Schreibtischschublade: Julias Abrechnung mit ihrer Schwester Eva. Die nie abgeschickten Dokumente von Liebe und Hass könnten eine Bibliothek füllen, denkt Anna. Oder Friedhöfe: Hier ruht die verborgene Literatur von Vertrauen und Verrat. Gefühle, die nie eine Adressegefunden haben.
Anna weiß immer noch nicht, was richtig oder falsch ist. Doch viel mehr noch als der Brief beschäftigt sie das Foto. Sie hat einige Aufnahmen aus der Wohnung mitgenommen, um sie Eva Mauz zu zeigen. Identifizierung von unbekannten Subjekten, nur kennt sie eines leider viel zu gut. Sie hat Liebling bedeutet, dass sie leider keine Zeit für ihn habe, als er anrief, um ihr zu sagen, dass er in Berlin sei. Er schien enttäuscht, vielleicht sogar verletzt, aber in der Analyse von Telefonstimmen war sie nie besonders gut. Sie hat schnell aufgelegt, noch bevor er versuchen konnte, sie umzustimmen. Feigheit, Annas großer Feind. Sie wird sich
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