Anna Marx 9: Feuer bitte
Verbrechen aufzuklären.«
Bruno versteckt sich hinter seinem Computerbildschirm, um seine Belustigung über so viel Pathos zu verbergen. Jemand hat Martin mit dem Baseballschläger eins übergezogen: So was kommt vor. Insbesondere, wenn einer seine Finger in zu vielen Geschäften hat. Martin handelte mit Informationen – und manche waren buchstäblich Gold wert. Bruno hat lange genug gedient, um es genau zu wissen: Die Welt gehört den Skrupellosen. Leuten wie John Schultz oder, viel mehr noch, ihren Auftraggebern. Martin Liebling glaubte, dass er im Dreck wühlen und sauber bleiben könnte. Das war naiv. So unvorsichtig von einem Mann, der meinte, alles im Griff zu haben. Solche Leute neigen dazu, andere zu unterschätzen. Martin hat Brunos Qualitäten nicht hinreichend gewürdigt, so viel steht fest.
»Du trägst kein Grau mehr.« Alicias Stimme klingt doch tatsächlich anklagend. Ihr Zeigefinger ist auf sein grün-blau kariertes Jackett mit den Goldknöpfen gerichtet. Feinstes Kaschmir. Nein, es ist nicht von Martin geklaut, das nicht. Der Mann war viel größer und dicker als er. Bruno ist klein, schmal und muskulös. Er geht ins Fitnesscenter und joggt jedes Wochenende, weil er hundert Jahre alt werden will – und reich. Nur reiche, alte Männer können Schönheit und Jugend kaufen – und alles andere, was zu einem guten Leben gehört.
»Schwarz fände ich etwas übertrieben«, murmelt er, obwohl Alicia natürlich diese Farbe wählte. Steht ihr nicht. Zusammen mit den roten Haaren und der fahlen Gesichtsfarbe sieht sie aus wie ein trauriger Clown. Mit Albinoaugen. Sie trägt die Goldkette mit dem Rubinherz, die Martin ihr zum letzten Geburtstag schenkte. Martin spielte virtuos auf dem Klavier weiblicher Empfänglichkeiten. Keine Sekretärin oder Assistentin, die seinem rustikalen Charme und den herzigen Geschenken widerstehen konnte. Nun, jetzt können sie alle Trauer tragen – wie die Gondeln in Venedig.
Der Gedanke bringt ihn zum Kichern, und er tarnt es mit Husten. Alicia hat keinen Funken Humor. Schöne Hysterikerinnen, das war Martins Spezialität, und es ist durchaus möglich, dass Alicia früher eine Schönheit war. Bevor sie mit den Jahren brüchig wurde wie feines, sehr dünnes Papier.
»Was sollen wir nur tun?«, seufzt Alicia, und Bruno antwortet, dass man die Geschäfte weiterführen müsse, so gut es eben ginge. Ganz in Martins Sinne, fügt er hinzu, und damit hat er sie, zumindest für den Augenblick. Sie weiß zu viel. Auch, dass Martin ihm nie ganz traute. Hat der Mann wirklich geglaubt, dass Bruno nichts von der Diskette wüsste?
Nie erschien Bruno Brüssel spannender als jetzt: die neuen Länder, die neuen Abgeordneten, die neuen Kommissare … wer in den nächsten fünf Jahren mit Macht und Geld spielen darf, wird jetzt ausgekungelt. Und entscheidend ist wie immer die Zusammensetzung der Kommission, denn hier spielt die Musik am lautesten. Kommissare werden von Regierungen vorgeschlagen, das ist wahr. Doch noch bevor ihre Namen offiziell gehandelt werden, erscheinen sie in den Computern der Lobbyisten. Werden gewogen – und für leicht oder zu schwer befunden. Werden geröntgt: Wer steht wofür und war in wessen Sold? Für oder gegen Gentechnik? Für oder gegen die Lockerung von Zulassungsbeschränkungen für Medikamente auf dem europäischen Markt? Für oder gegen Handelserleichterungen oder Agrarsubventionen? Die konservative Komponente ist für die Industrie stets von gewisser Bedeutung, doch nicht alles entscheidend. Was sie fürchtet wie der Teufel das Weihwasser, ist geschäftsschädigender Fundamentalismus in jeglicher Richtung. Geschätzt wird Inkompetenz, denn sie äußert sich meist in Schwäche und eröffnet somit Möglichkeiten stärkerer Einflussnahme. Und erscheint einer dieser Namen als untragbar, kommt die vierte Macht ins Spiel: die Presse. Männer wie John Schultz oder Martin Liebling, die Informationen gezielt einsetzen, um entsprechende Kommissionskandidaten schon im Vorfeld auszuschalten – oder es zumindest zu versuchen. Männer wie Bruno Laurenz, der den Engländer der Presse zum Fraß vorgeworfen hat. Nie und nimmer wird der alte Heuchler wieder in den Berlaymont-Bau einziehen, um von dort aus gegen die Tabakindustrie, die Werbewirtschaft und Subventionen für Europas Tabakbauern zu wettern.
Auch Nichtraucher müssen sterben, und der plötzliche Tod einer Karriere ist für manche schmerzhafter als der Abschied vom Leben. Romano Prodi, der Scheidende, ist
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