Anna Marx 9: Feuer bitte
übernachten?«, fragt Sibylle, und Anna schüttelt den Kopf, was ihr einigermaßen schwer fällt. Sie trinkt Wasser in großen Mengen, sie muss es noch bis nach Hause schaffen. Von der Wohnungstür am Büro vorbei in ihr Schlafzimmer und ins Bett. In dem gestern noch Martin gelegen hat, neben ihr und auf ihr. So wütend und sprachlos, und wenn er physisch dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er sie nie mehr losgelassen. Auch eine Art von Henkersmahlzeit … warum zum Teufel kann sie nicht anständig trauern, begraben und vergessen? Weil er sie in sein Leben und seinen Tod hineingezogen hat. Vergisst man immer, wenn man sich einlässt. Dass es nicht nur Sex und schöne Worte gibt, sondern die intime Berührung mit einem anderen Leben. Anna hat Martins Mörder am Hals. Seine Mörderin, warum denkt sie nur, dass es eine Frau ist? Weil Wanda Kroll sagte, dass Frauen immer einen guten Grund für Gewalt haben?
Sibylle gewährt Freddy die Bitte, am nächsten Tag freizunehmen. Er muss mit seinem Freund ins Krankenhaus. »Wird schon irgendwie gehen«, sagt sie, obwohl sie keine Ahnung hat, wie sie ohne Barmann und Babysitter auskommen soll. Die beschwingte Stimmung hält an, wofür es keinen Grund gibt außer Annas Tristesse. Hat sie sie nicht wochenlang beneidet? Und jetzt sind die Karten anders gemischt. »Du wirst doch die Arbeit der Kripo überlassen?«
»Sehe ich so aus?« Anna richtet sich auf dem Barhocker auf. Sie trägt Schwarz, was nichts zu bedeuten hat, es ist ihre bevorzugte Tarnfarbe.
»Nein.« Sibylle gibt Freddy einen Wink, Wodka nachzuschenken. »Du brauchst jetzt Abstand. Was hältst du davon, wenn ich den Laden für zwei Wochen schließe und wir nach Italien fahren?«
Sonne, Sand, Meer, denkt Anna in leichtem Verfolgungswahn. Sie will Regen, Straßendreck und ihren tropfenden Wasserhahn. Ganz zu schweigen von dem kleinen Monster, das man nicht irgendwo abstellen kann wie einen Schirm. Außer in der Küche, das hat Sibylle wohl vergessen. »Im Übrigen kann ich jetzt gar nicht weg. Ich bin immer noch die Hauptverdächtige. Schon vergessen?«
»Und ich bin dein Alibi«, murmelt Sibylle. Sie ist bereits befragt worden, von einem Polizisten mit Pickeln im Gesicht. Jonathan schrie die ganze Zeit über, und irgendwie schienen sie darüber zu sprießen. Männer sind hässlich, selbst ihr eigenes Exemplar mit seinem Affengesicht und dem viel zu großen Penis. Als ob die Natur von Anfang an keinen Hehl daraus machte, was bei Männern bedeutend ist. Also wird sie sich eine Partnerin suchen für das italienische Leben, und es wird Anna sein. Bis dahin kann sie noch ein paar Mörder und Ehebrecher fangen, wenn sie denn unbedingt möchte. Was Liebling betrifft: kein bisschen Trauer. Vor sich selbst braucht sie nicht zu heucheln. Anna sieht aus wie eine Leiche auf Urlaub: Was hat ihr dieser Mann nur angetan!
»Und ich schulde Martin noch Geld. So kann ich es zumindest abarbeiten.«
»Wie edel von dir. Wenn wir schon beim Thema sind: Du schuldest mir auch dreitausend. Und ich lebe noch.«
Schuld, Schuld, Schuld: Anna fühlt sich von ihr umzingelt. Von Menschen, die etwas von ihr verlangen, das sie ihnen nicht geben kann. Eva Mauz auf dem Anrufbeantworter ihres Handys: Ob sie denn endlich wüsste, wer der Mann auf dem Foto sei? David Liebling, und sie hat ihn über allem, was geschehen ist, beinahe vergessen. Anna steht auf und schiebt Sibylle sacht zur Seite. Sie geht zu Fjodor, der am offenen Fenster steht. Von Rauchschwaden gepeinigt, zieht er die Zugluft vor. Das Leben wird ihn ruinieren, bevor die Menschheit sein Genie erkannt hat. Der Gedanke ist peinigend. Er wird zu Onkel Wanja gehen und ihn um Geld bitten müssen. Um dafür zu hören, dass er endlich etwas Richtiges machen soll, zum Beispiel als Zuhälter oder Dealer arbeiten.
Annas Stimme klingt noch rauer als sonst. »Warst du im ›Adlon‹, Fjodor? Du hast es mir versprochen!«
Sie hat ihn erpresst. »Selbstverständlich bin ich deinem Befehl gefolgt. Ich war dort. Habe ihm das Foto untergejubelt, und du glaubst es nicht …«
»Was?«
»Mein Verwandter hat ihn erkannt. Er logierte dort, genau wie du prophezeit hast. Ist das nicht von grandioser Komik? Er verließ gestern das Hotel. Du hast ihn um Haaresspitzen verpasst. Er nannte sich Richard Gore und besaß einen Pass aus Panama. Ist das der Mann deines Herzens?«
Gestern? Er war die ganze Zeit in Berlin, denkt Anna, während ich einem Phantom nachjagte. Während Martin getötet wurde. In
Weitere Kostenlose Bücher