Anna Marx 9: Feuer bitte
die Familie verließ, war Schuld der Mutter. Eine hysterische Person, die jeden Mann aus dem Haus getrieben hätte. Alicia denkt an ihre Kindheit wie an einen Albtraum, aus dem man nie wirklich erwacht. Die Vatermänner, die ihren Weg kreuzten, waren ihren Ansprüchen nicht gewachsen. Sie dachte, dass sie nicht lieben könne … bis sie Martin traf. Nie wird sie die erste Begegnung mit ihm vergessen. Sein Lächeln und seine Worte: »Sie sind die eine, die ich will.« Alicia wurde seine Sekretärin. Seine Geliebte. Seine Sekretärin.
»Du bist die Einzige, die mich nie enttäuscht hat«: Martins letzter Satz, bevor er das Büro verließ. Er stand schon an der Tür, einen Koffer in der Hand, und er trug den schwarzen Schal mit den kleinen roten Herzen, den sie ihm geschenkt hatte. Keine Erklärungen für seine abrupte Abreise: Er hatte ihr nur gesagt, dass er dringend nach Berlin müsse und tauchte eine halbe Stunde später wieder auf mit Koffer und Aktentasche. Die Termine? Alle absagen. Sein Satz an der Tür war ein Abschiednehmen, nur hat sie es nicht begriffen in diesem Augenblick. Es ging alles so schnell …
Dass Martin ein Ticket ohne Wiederkehr in der Tasche hatte, weiß sie von der Kommissarin. Zwei Tickets, also wollte er die Marx mitnehmen. Davon geht Alicia aus, und ja, sie könnte sich darüber freuen, dass aus der gemeinsamen Reise nichts geworden ist. Alicia ist die einzige Frau, die Martin nie enttäuscht hat. Bis zuletzt, darüber könnte sie lachen, wenn sie nicht so traurig wäre.
Der Taxifahrer erklärt ihr die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Eigentlich ist er Fremdenführer, und seine Geschichte und die ausschweifenden Ausführungen zu den großen, hässlichen Gebäuden, die sie passieren, fließen an ihr vorüber wie der braune, träge Fluss, der diese Stadt durchquert. Berlin ist ein monumentaler Friedhof, denkt Alicia, und dass sie jedes schlampige, verrottete Viertel Brüssels besser findet. Der schnauzende Tonfall zerrt an ihren Nerven, sie stammt aus dem Süden der Republik, wo ihr alles, auch die Sprache, weicher erschien. Französisch ist ihr inzwischen lieber als Deutsch, und sie hat davon geträumt, einmal mit Martin in Belgien zu leben. Sind alle Anleitungen zum Unglücklichsein befolgt worden? Sie beginnt leise zu weinen, und der Fahrer wird endlich still. Als er anhält und sie die Fahrtrechnung begleicht, verlangt sie eine Quittung. Aus alter Gewohnheit, sie war immer penibel mit Spesenabrechnungen. Martin hingegen verschlampte alles, er dachte und handelte immer nur in großen Würfen. Ohne sie hätte er es nie so weit gebracht, aber natürlich hat sie ihn das nie spüren lassen. Sie war seine zweite Hälfte, und eines Tages hätte er das auch erkannt. Fühlt sie deshalb, es wäre mit ihm auch ein Teil von ihr gestorben? Sie will nicht weinen vor seiner Liebhaberin. Alicia kontrolliert im Handspiegel ihr Aussehen, bevor sie auf den Klingelknopf drückt.
Das Gebäude, in dem Anna Marx lebt, erinnert Alicia an Brüsseler Verhältnisse: fortgeschrittener Verfall. Das Haus stinkt, und weil sie dem Aufzug misstraut, steigt sie die Treppen hoch. Die Frau, die ihr Martin weggenommen hat, steht an der offenen Wohnungstür. Sie trägt ebenfalls Schwarz. Sie ist rothaarig. Alles an ihr ist zu groß geraten, denkt Alicia und versteht immer noch nicht, was Martin an Anna Marx gefunden hat.
Die beiden sind einander einmal begegnet, in Lieblings Büro. Anna spürt die Feindseligkeit der anderen, und sie versucht immerhin ein Lächeln. »Kommen Sie herein, Alicia. Es ist alles wieder … normal. Es hat Sie sicher Überwindung gekostet hierherzukommen. Es tut mir so Leid … für uns alle.«
Alicia nickt nur, und Anna geht voraus in ihr Büro, das wieder bewohnbar ist, wenn man von Gespenstern absieht. Sibylle hat ihre polnische Putzfrau geschickt, die sich während der Arbeit ständig bekreuzigte. Kein Blut mehr auf dem Boden und an der Wand; den Teppich hat Anna in den Müllcontainer gestopft. Alles ist wie früher … beinahe. Um die Stelle, an der Lieblings Leiche lag, macht Anna immer noch einen großen Bogen.
Alicia hat das Zögern und den Umweg registriert. »Ist es hier geschehen?«
»Ja, er lag zwischen Schreib- und Couchtisch. Auf dem Bauch. Jemand hat ihn von hinten …«
»Ich weiß«, sagt Alicia. »Ich war bei der Kommissarin. Sie hat offenbar Ihr Alibi überprüft – und es scheint in Ordnung zu sein.«
Alicias Stimme drückt aus, dass sie dies bedauert. So feindselig, ihr
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