Anna Marx 9: Feuer bitte
könnte. Alicia in ihrer Ordnungsliebe muss noch aufgeräumt haben, bevor sie sich zum Sterben hinlegte. Und wenn sie es gar nicht selbst tat? David Liebling, der ins Büro kam, es gab einen Streit, was auch immer, und er zwang sie, die schon schläfrig war, die Pillen zu nehmen, alles, was da war, und …
Aber nein, das ist unmöglich. Er kann nicht an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein, im Büro und in der Wohnung. Alicia war eine Kandidatin für hysterische Akte, und dass sie keine Abschiedszeilen hinterlassen hat, beweist noch nichts. An wen hätte sie ihre letzten Worte richten sollen? An Anna Marx? Martins Foto lag auf dem Boden neben der Couch, sie muss es aus seinem Arbeitszimmer vom Schreibtisch genommen haben. Er lächelt sardonisch auf diesem Bild, als ob er sich über etwas amüsiere, an dem andere nicht teilhaben. Warum hat Alicia dieses Foto gewählt, um seinen Schrein zu schmücken? Anna schließt die Augen, weil ihr übel wird von der wilden Fahrt und Gedanken, die sich im Kreis drehen und zu keiner vernünftigen Erklärung führen.
Sie wird vom Gurt gehalten, als der Fahrer abrupt bremst. Sie stehen vor dem Krankenhaus, es ist ein riesiger, hässlicher Bau, der Anna Furcht einflößt wie alle Hospitäler dieser Welt. Sie schieben Alicia durch das Glasportal, und Anna folgt dem Tross in die Notaufnahme. Ihre Füße schmerzen, ihr Magen fühlt sich hohl an, und erschöpft setzt sie sich in einen der Plastikstühle im Wartebereich, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Sie würde umkippen.
»Alles in Ordnung?«, fragt der Arzt, bevor er verschwindet. Annas Antwort hat er nicht abgewartet, ist ja auch egal, denkt sie, weil dies ein Ort zum Sterben ist, und wenn sie jetzt eine Zigarette hätte, sie würde sie anzünden, sofort und ohne Bedenken. Gibt es Zigarettenautomaten in belgischen Krankenhäusern? Sie müsste sich zur Cafeteria durchschlagen, vielleicht auch einmal etwas essen, nein, sie kann sich nicht bewegen, und weil der Stuhl so unbequem ist, setzt sie sich daneben, auf den Boden. Zieht die Schuhe aus und betrachtet ihre Zehen. Nicht daran denken, dass sie Alicia vielleicht zu spät gefunden hat. Die Zehen: Sie sind hässlich, mit roten Druckstellen von den schönen Folterwerkzeugen. Zu viel Hornhaut, sie achtet zu wenig auf ihren Körper, und die Beine rasiert sie sich nur, wenn ein erotisches Ereignis bevorsteht. Zum letzten Mal, als Liebling in Berlin war.
Sie stand im Badezimmer, während er im Büro telefonierte. Mit wem hat er gesprochen? Sie hat ihn nicht gefragt, warum auch? Und dann hat sie es vergessen, sie muss, sobald sie zu Hause ist, eine Liste der Telefonate anfordern. Schlampige Detektivinnen sterben des Hungers in belgischen Krankenhäusern – und recht geschieht ihnen.
Bitte, lieber Gott, wenn es dich gibt, mach, dass Alicia durchkommt. Annas Krisengebete sind von zweifelhafter Qualität, sie weiß es und glaubt nicht an Erhörung. Aber weiß man’s, vielleicht versteht er alles, sogar Frauen wie sie. Annas Handy klingelt, sie kramt in ihrer Handtasche und erwischt die grüne Taste, bevor das Piepen erstirbt. ER ist es nicht.
»Wie geht es dir?«, fragt Sibylle aus einem fernen Land, und Anna antwortet: »Geht so«, was keine weiteren Erklärungen nach sich ziehen muss. Sibylle hätte auch kein Ohr dafür, denn sie muss Anna unbedingt erzählen, dass sie den Mann ihres Lebens gefunden hat. Er heißt Archibald.
»Kein Mensch heißt so«, sagt Anna.
Sibylle überhört den bissigen Ton. »Doch, und Archie ist das Beste, was in diesem Universum frei herumläuft. Eine Offenbarung im Bett. Und er wickelt Jonathan und gibt ihm die Flasche. Einen phantastischeren Vater kannst du dir nicht vorstellen. Ach, Anna, ich bin so glücklich.«
Anna schweigt. Es ist der falsche Moment, um glücklich zu sein, und sie kann sich an Archibald nicht erwärmen. Jetzt nicht. »Das freut mich für dich. Und wo hast du dieses Wunder getroffen?«
»Na, in der Kneipe natürlich. Er kam rein – und es war Liebe auf den ersten Blick. Es stört mich absolut nicht, dass er eine Glatze hat. Es sieht so sexy aus. Findet Freddy auch, aber dieser Mann ist absolut hetero.«
Sibylle lacht, ein bisschen verblödet, wie Anna findet. Eine Schwester geht vorbei und sieht Anna strafend an. Hat sie wieder ein Verbotsschild übersehen? Doch der steife Kragen sagt nichts und geht weiter, und Sibylle schäumt am anderen Ende der Leitung über vor Glück. Es ist ekelhaft.
»Du musst ihn unbedingt
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