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Anna Marx 9: Feuer bitte

Anna Marx 9: Feuer bitte

Titel: Anna Marx 9: Feuer bitte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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doch die Schlafende reagiert nicht. Sie atmet, denkt Anna, flach und unregelmäßig, doch sie atmet. Sie ist nicht tot. Noch nicht. Oh, verdammt, sie braucht Hilfe. Die Feuerwehr, den Notarzt, Polizei … und keine Ahnung hat sie, welche Nummer sie wählen müsste. Sucht das Telefonbuch, das sich in einem der Schränke versteckt. Sie findet es nicht und weiß nichts Besseres zu tun, als aus dem Büro zu laufen und im Flur nach Hilfe zu schreien. Irgendjemand in diesem Marmormausoleum muss sie doch hören …
    Anna versucht es in Deutsch und Englisch, auf Brüsseler Sprachkenntnisse vertrauend … und tatsächlich öffnet sich eine Tür, und ein junger Mann fragt, in Anbetracht der Umstände sehr ruhig und höflich, womit er helfen könne …
    Der Notarztwagen braucht fünf Minuten. Anna hat auf die Uhr gesehen und die Sekunden gezählt, während der junge Mann Alicia beatmete. Ein Erste-Hilfe-Kurs: Auch das zählt zu den vielen Versäumnissen in ihrem Leben. Betet sie? Zumindest hat sie, am Fenster stehend, die Hände gefaltet und sieht zu, wie drei Männer aus dem Wagen ins Haus gehen. Ewigkeiten, die ein Lift brauchen kann; sie öffnet ihnen die Tür. Nein, sie hat keine Ahnung, was passiert ist. Eine Valium, das könne doch nicht so verheerend wirken. Sie redet noch, als ihr keiner mehr zuhört, weil sie sich um die Frau auf dem Sofa kümmern.
    »Sieht aus wie eine Überdosis«, sagt der junge Mann zu Anna. »Aber es ist nichts auf dem Tisch, das uns weiterhelfen könnte.«
    »Sie war sehr ordentlich«, murmelt Anna und erschrickt über ihre Worte. Die Sanitäter, Ärzte, was auch immer, legen Alicia auf eine Bahre. »Ist sie tot?«, fragt Anna, und sie beachten sie gar nicht. »Wie viel Valium?«, fragt einer, und Anna läuft ins Badezimmer und kommt mit der leeren Packung zurück. »Ich habe ihr doch nur eine einzige gegeben«, betet sie den Satz ihrer Unschuld, während sie ihr die Sicht aufs Geschehen versperren.
    »Sie wird künstlich beatmet«, sagt der junge Mann. »Sind Sie mit ihr verwandt? Sie sollten mit ins Krankenhaus fahren.«
    Warum bleibt er so ruhig und scheint genau zu wissen, was das Richtige ist? Anna lächelt ihn dankbar an, nimmt ihre und Alicias Handtasche und folgt den Männern mit der Bahre. Sie vergisst, abzuschließen, und ruft dem jungen Mann vom Lift aus zu, dass er einfach zuziehen solle. »Sie waren großartig«, sagt sie noch, bevor die Lifttür sie trennt.
    Haben Männer mehr Talent zur Katastrophenbewältigung? Vermutlich ja, weil sie immer wieder Frauen heiraten. »Wird sie durchkommen?«, fragt Anna den Mann mit der Brille, der wie ein Arzt aussieht, wie ein müdes, überarbeitetes Wrack mit schwarzer Haut und gräulich schimmernden Bartstoppeln.
    »Gut möglich«, antwortet er und lächelt gleichgültig. Er macht nur seinen Job und zweifelt manchmal daran, ob es sinnvoll ist, Selbstmörder zurückzuholen. Es sind immer nur die Angehörigen, die wehklagen. Diejenigen, die da liegen, sehen sehr friedlich aus, als ob sie froh wären, es geschafft zu haben. So weiß, die Haut der Schlafenden, und sie fühlte sich an wie Schnee. Der Tod ist kalt, so hat er es immer empfunden, während das Leben heiß und verschwitzt ist. Es ist eine Anstrengung, aus der nur der große Schlaf erlösen kann.
    Die Rothaarige sieht aus, als ob sie auch gleich zusammenklappen würde. Er nimmt ihren Arm, als sie den Lift verlassen, und setzt sie auf den Beifahrersitz, während er hinten einsteigt. Er tut seine Pflicht, dafür wird er bezahlt. Blaulicht und Sirenen, das ist seine Musik. Selbstmörder-Disco und der Rap der Todesängste: Er wollte Musiker werden, doch seine Eltern waren dagegen.
    Ich hätte nicht so lange wegbleiben dürfen, denkt Anna, während sie mit blinkenden Lichtern durch die Stadt rasen. Brüssel fliegt an ihr vorüber wie ein böser Traum, und die Sirene raubt ihr den Verstand. »Sie sind Verwandte?«, fragt der Kamikazefahrer und, als Anna den Kopf schüttelt: »Was machen Sie dann hier?«
    »Wir sind Freundinnen«, flüstert sie, und in diesem Augenblick glaubt sie daran. Sie ist eine schlechte Freundin, und wenn Alicia stirbt, wird sie sich schuldig fühlen. Anna hat ihr das Valium gegeben, und sie hat die Packung auf dem Tisch liegen lassen, weil sie es eilig hatte, wegzukommen. Wie viele Pillen waren in der Packung? Sie weiß es nicht mehr, aber sie war fast voll. Im Badezimmerschrank lagen auch Schlaftabletten, der Giftschrank war voll von allem, was zum Tode befördern

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