Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
Grauen.
Gleich darauf ist sie wieder bei mir. »Nichts. Du meinst doch nicht, dass er in einer dieser Kisten steckt, oder? Himmel. Das sind ja mindestens hundert. Wir haben nicht die Zeit, sie alle aufzumachen und nachzuschauen.«
Sie geht auf das Chaos aus Holzkisten zu, die fast bis zur Decke aufeinandergestapelt sind. Ich folge ihr und lasse den Blick über den Haufen schweifen. »Im Staub auf diesen Kisten sind keine Spuren. Ich glaube nicht, dass jemand hier unten war .... « Ich wollte eigentlich sagen, seit ich zuletzt hier war. Aber ich will ihr die Umstände dieses Besuchs nicht erklären müssen, also lasse ich es.
Tamara runzelt die Stirn. »Und was machen wir jetzt? Dieses Medaillon zu finden, ist die einzige Möglichkeit, wie wir Sandra befreien und Avery ein für alle Mal loswerden können.«
Eine leichte Bewegung an der Tür. Ich erhasche sie aus dem Augenwinkel wie das Aufblitzen der Sonne in einem Spiegel. Sandra erscheint am Fuß der Treppe, als hätten Tamaras Worte sie herbeigezaubert. Die wirre Leere ist aus ihrem Gesicht verschwunden, dieser hilflose Ausdruck eines verirrten Kindes. Sie betrachtet mich mit der distanzierten Gelassenheit eines Raubtiers. Sie hat den Ausschnitt ihres Nachthemds tiefer heruntergezogen, und der Umriss ihres Körpers schimmert durch den Stoff wie von innen beleuchtet.
Ich kann den Blick nicht abwenden. Binnen eines Augenblicks verliere ich die Beherrschung über meine Sinne. Sie fordert mich heraus, ihr zu widerstehen, und ich weiß, dass ich das nicht kann. Ich zittere. Sie ist mir nicht nahe genug, um mich zu berühren, jedenfalls körperlich, und doch spüre ich, wie ihre Finger über meine Haut streichen, meinen Bauch hinab und zwischen meine Oberschenkel. Ihre Fingerspitzen gleiten über meine Scham, und ich bebe vor Erregung. Sie ist da, quält mich mit ihrer federleichten Berührung. Ich will mehr. Ich will, dass sie es bis zum Ende führt. Ein Stöhnen kommt über meine Lippen, ein Flehen um Erlösung.
Ein kaltes, bitteres Lachen bricht den Zauber. »Ach, Anna.« Ihre Stimme. Seine Stimme. »Du hast dich kein bisschen verändert, nicht wahr?«
Kapitel 64
Einen Moment lang schwankt der Raum.
Ich höre Tamaras Stimme: »Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen.«
Ich werde wie aus einem Traum in die Gegenwart zurückgerissen und bin verwirrt, orientierungslos. Dann wird mein Kopf klar, und alles ist wieder da.
In Sandras Augen glimmt ein Licht, das nicht zu ihr gehört, und sie lächelt mich mit einem Gesichtsausdruck ohne jede Wärme oder Freude an.
»Was ist denn, Anna? Was habe ich getan?«, fragt sie. Ihre Lippen bewegen sich, aber es ist Avery, der mit mir spricht. »Ich bin doch nur auf dein Begehren eingegangen. Genau wie damals. Ich habe dich nie zu etwas gezwungen, das du nicht wolltest. Das kannst du nicht bestreiten. Dein Körper verrät dich.«
Hitze flammt in mir auf. Der vertraute Funken der Leidenschaft. »Lass das.« Ich begegne der aufsteigenden Hitze mit heftigem Zorn, bis meine Erregung zu Asche zerfällt. »Ich lasse mich nicht mehr von dir manipulieren.«
»Du glaubst, du könntest mich an irgendetwas hindern?«
»Sandra wird dich daran hindern. Wir werden den Talisman finden.«
»Du meinst den Talisman da? Den Tamara um den Hals trägt?«
Sie lassen mir keine Zeit für eine Antwort. Ein ver schwommener Schatten schießt blitzschnell auf mich zu. Ich wirble herum und strecke instinktiv die Hände aus, um es wegzustoßen. Es ist ein riesiger Wolf. Mein Schlag trifft ihn an der Schulter, und er stürzt.
Aber wie .... ? Tamaras Kleidung liegt in einem Haufen auf dem Boden. Sie muss sich verwandelt haben, während Avery mit mir gespielt hat.
Der Wolf springt auf und greift mich erneut an, aber diesmal bin ich vorbereitet.
Wir umkreisen einander, Vampirin und Wölfin. Sie ist so groß wie ein Mastiff, mit goldenem Fell und schwarzen Lefzen, die zu einem Knurren zurückgezogen sind. Ihre Augen sind gelb, und die schlitzförmigen Pupillen strahlen mehr als tierische Intelligenz aus. Sie ist vollkommen bewusst. Sie handelt nicht instinktiv als Tier, sondern in einer bestimmten Absicht. Steht sie unter Averys Kontrolle? Bis zu diesem Augenblick hätte ich das nicht für möglich gehalten. Tamara hat sich an mich gewandt, damit ich Sandra helfe. Oder?
An der Tür beginnt Sandra mit leiser Stimme besänftigend mit der Wölfin zu sprechen. Sie hält inne und lauscht.»Süße Tamara. Ich hätte dich auswählen sollen, aber du und
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