Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
Nur Tamara ist bei mir geblieben. Jetzt weiß ich auch, warum. Sie und Avery hatten ihre eigenen Pläne.«
»Aber warum? Was hatte sie dabei zu gewinnen?«
Sandra weist mit einer ausgreifenden Geste auf den Raum um uns herum. »Das hier. Und jetzt geh.«
Kapitel 66
Die Tür am Fuß der Treppe hat kein Schloss. Ehe ich den Keller verlasse, schleudere ich eine der Holzkisten gegen die Wand. Eine Kaskade aus Gold - und Silbermünzen ergießt sich daraus, aber es ist nicht der Inhalt, der mich interessiert, sondern das schwere Holz darum herum. Ich wähle zwei Bretter aus.
Das Letzte, was ich von Sandra sehe, ist eine halb wölfische, halb menschliche Gestalt, die sich auf dem Boden krümmt. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, und sie wimmert vor Qual. Avery kämpft mit ihr. Sie umklammert den Talisman mit einer Hand, die mehr tierisch denn menschlich ist. Ihr Blick ist klar, ihre Entschlossenheit offensichtlich. Sie wird siegen.
Ich schließe die Tür und verkeile die Bretter unter dem Knauf. Ein starker Mensch, der sich ernsthaft bemüht, könnte möglicherweise ausbrechen. Ein Wolf wohl kaum.
Erst als ich wieder oben bin, in Averys Schlafzimmer, überkommt mich meine eigene rasende Wut. Ich reiße die Laken vom Bett und werfe sie ins Kaminfeuer. Ich zerfetze mit bloßen Händen die Matratze und verfüttere sie Stück für Stück an die Flammen. Wenn ich könnte, würde ich auch das Bett auseinandernehmen. Es ist zu schwer und zu gut gebaut, als dass selbst ein Vampir ihm ohne Werkzeug beikommen könnte. Ich muss mich damit zufriedengeben, alles zu zerstören, womit meine Haut in Kontakt kommt, alles, was Averys Körper berührt hat. Als ich fertig bin, riecht es hier nach nichts mehr außer Asche und Rauch.
Ich sinke in einen Sessel, schaue in die schwelenden Reste des erlöschenden Feuers und frage mich, was in der geheimen Kammer tief unter meinen Füßen geschieht.
Was wollte Tamara? Reichtum? Ein Leben in diesem Mausoleum von einem Haus?
Sie brauchte nur mich zu töten und Sandra sterben zu lassen. Avery wäre in ihren Körper übergesprungen, und die Vereinigung wäre vollkommen gewesen. Eine Bestie, die im Körper einer anderen lebt. War Unsterblichkeit auch ein Teil dieses Handels?
Ohne mich hätte sie niemand mehr daran hindern können, Averys Erbe zu beanspruchen. Was sie nicht zu begreifen scheint, und auch sonst niemand, ist, dass ich es nur zu gern freiwillig hergegeben hätte. Ich werde es verschenken. An Sandra, wenn Avery tot ist. Ihre Ehe mag nicht offiziell gewesen sein, aber die höllische Vereinigung, die sie miteinander verband, macht sie mehr zu seiner Erbin, als ich es je sein könnte.
Das Weingut. Was ist mit dem Weingut? Meine Eltern und Trish, aufgeregt, voller Vorfreude und überglücklich über dieses unerwartete Geschenk – ein neues Leben. Wie soll ich ihnen die Wahrheit sagen? Und Williams. Was mache ich mit ihm? Ich habe keine Antworten. Noch nicht.
Das letzte Zischeln des Feuers ist mein Zeichen, endlich zu gehen. Der Wecker am Bett zeigt drei Uhr morgens an. Ich blicke mich noch einmal in einem Raum um, den ich hoffentlich nie wiedersehen werde.
Als ich mich zum Gehen wende, dringt ein gedämpfter Laut aus den Eingeweiden der Erde zu mir herauf. Das Heulen eines Wolfes.
Kapitel 67
David begrüßt mich an der Tür seiner Wohnung mit einem ungeduldigen Zug um den Mund. Er trägt eine Jeans und ein Polohemd und eine Lederjacke über einem Arm. »Ich dachte schon, du tauchst gar nicht mehr auf. Ich komme zu spät. Tammy erwartet mich um vier.«
Tammy erwartet niemanden. Nie wieder. Ich runzle in gespielter Überraschung die Stirn. »Sie hat dich nicht angerufen?«
Er verschränkt die Arme vor der Brust, und seine Miene wird noch finsterer. »Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass sie gesagt hat, sie würde dich anrufen, ehe sie die Stadt verlässt. Hat sie nicht?«
»Nein. Sie hat mich nicht angerufen. Und was soll das heißen, die Stadt verlassen?«
Ich dränge mich an ihm vorbei und gehe ins Wohnzimmer. Gloria liegt, auf Kissen gestützt, auf dem Sofa. Sie trägt einen seidenen Jogginganzug und hat das Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihr Gesicht ist blass und ungeschminkt, aber ihre Miene hellt sich auf, als sie die letzten Worte aufschnappt.
Ich würde sie gern warnen, sich keinen Hoffnungen hinzugeben, weil das hier nichts an unserer Abmachung ändert, aber zuerst muss ich das Theaterstück für David zu Ende aufführen. »Es gab einen Notfall
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