Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
mich zu verstehen. »Als du angerufen hast«, erklärt Tamara, »hat Sandra ein Schlafmittel genommen. Sie weiß, dass bestimmte Medikamente bei Avery anschlagen. Seit er ihren Körper in Besitz genommen hat, benutzen wir dieses Wissen, um Sandra hin und wieder seiner Kontrolle zu entziehen. Die Wirkung hält nicht lange an, und wenn sie abgeklungen ist, rächt er sich fürchterlich an ihr. Es ist Sandra, die dich erwartet, nicht Avery.«
Sie schiebt die Tür auf und wartet.
Ich warte auch. Darauf, dass sich mein Blut ab-kühlt, der Kampfreflex nachlässt, die Vernunft wieder die Oberhand gewinnt.
Ich schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne, bin ich bereit.
Kapitel 62
Der Raum ist genau so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Schwere, dunkle Möbel, die aussehen, als sollten sie in einem Schloss stehen, und vermutlich auch mal in einem gestanden haben. Bücherregale an zwei Wänden, ein riesiger steinerner Kamin gegenüber dem Bett. Bogenförmige Fenster, die schräg einfallende Sonnenstrahlen und Schatten über die Wände huschen lassen.
Aber irgendetwas ist anders. Ich brauche einen Moment, um dahinterzukommen, was es ist. Das Licht. Das Licht im Raum ist anders. Jetzt ist Dezember, nicht Juli. Der veränderte Stand der Sonne, die ihrem tieferen winterlichen Bogen folgt, taucht die Wände in trübes Zinn statt leuchtendes Gold. Selbst das Feuer, das in dem mächtigen offenen Kamin brennt, kann die Kälte nicht ganz vertreiben.
Tamara gibt ein leises Räuspern von sich. Es reißt mich aus meinen Gedanken, und als ich mich umdrehe, sehe ich Sandra. Sie liegt auf Kissen gestützt in Averys Bett.
Averys Bett. Sein Geruch überwältigt meine Sinne: vampirisch, männlich, moschusartig. Dann erkenne ich mit scheußlicher Klarheit, dass auch ich hier zu riechen bin. Ein Hauch von Parfüm und Schweiß. Diese Seidenlaken sind durchdrungen von der Essenz unserer geteilten Leidenschaft. Pheromone, Testosteron, Lust. Wie oft haben wir in diesem Bett miteinander geschlafen? Wie kann Sandra es ertragen, darin zu liegen?
Ich merke, dass sie mich beobachtet. Ich sammle mich und mustere sie. Sie ist blass, ungeschminkt, das Haar zurückgekämmt. Sie trägt ein Nachthemd aus blauem Chiffon, das die Rundungen ihrer Brüste durchschimmern lässt. Die Bettdecke ist um ihre Taille geknautscht, ihre Hände darauf gefaltet.
Sie strahlt nichts von der Kraft aus, nichts von der starken Sexualität, die mich zuvor so gefesselt haben. Die Frau vor mir ist ein Kind, verängstigt und verloren. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass Avery mich durch Sandra genauso kontrollieren konnte, wie er es in seinem zweiten Leben getan hat. Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns bleibt, ehe Avery wieder erwacht. Ich weiß nicht, ob ich ihm in diesem Raum die Stirn bieten könnte.
»Warum hast du so lange gewartet, ehe du hergekommen bist?«, frage ich sie.
»Avery brauchte Zeit, Kraft zu sammeln«, flüstert sie. Ihre Stimme klingt gequält und heiser. Dann, als bereite ihr das Sprechen Schmerzen, legt sie eine Hand an die Kehle. »Er will mich daran hindern, mit dir zu sprechen. Sogar jetzt.«
Tamara tritt ans Bett und streicht Sandra über den Kopf. Sandra wirft ihr einen dankbaren Blick zu, und Tamara übernimmt das Erzählen. »Avery und Sandra sind sich vor vielen Jahren begegnet. Sie war eine junge Frau, gerade erst verwandelt, und er ein mächtiger Vampir und neugierig auf den Werwolf. In all seinen Jahren war sie das erste Werwesen, das dem Vampir nicht feindselig begegnete. Dafür stellte er sie unter seinen Schutz und erlaubte ihr, sich selbst andere unserer Art zu suchen, die bereit waren, sich mit ihr in einem Rudel zu verbünden.« Sie wendet den Blick von Sandra ab und sieht mich an. »Weißt du viel über das Werwolfsrudel?«
Ich schüttele den Kopf. »Nur was ich kürzlich aus einem alten Buch erfahren habe. Ein Alphamännchen dominiert das Rudel. Es gibt mehr männliche als weibliche Werwölfe, und die Frauen müssen sich stets den Männern unterordnen. Ich erinnere mich aber daran, dass in Culebras Bar das zahlenmäßige Verhältnis von Männern zu Frauen in eurem Rudel umgekehrt war. Euer Rudel ist anders.«
Tamara lächelt. »Das Buch, das du gelesen hast, nennt es Unterordnung? So kann man es wohl auch bezeichnen. In Wirklichkeit ist es Vergewaltigung, oft sogar Mord. Den alten Gesetzen gehorcht kaum noch jemand. Der Alpha nimmt sich, was er will. Wenn ein Weibchen überlebt, so wie ich, wird ihr Leben zu einem
Weitere Kostenlose Bücher