Anna Strong Chronicles 05 - Blutrotes Verlangen
ich das Jahr über fast gar nicht.«
»Hört sich an, als hätten Sie sich ein schönes Leben aufgebaut.«
Meine Stimme muss ein wenig sehnsüchtig geklungen haben, denn Turnbull zieht eine Augenbraue hoch. Warum sollte Ihnen das nicht gelingen? Ein Lachen dringt tief aus seiner Kehle. Ach ja – Williams glaubt offenbar, Sie hätten Todessehnsucht. Stimmt das? Ziehen Sie es wirklich vor, wie ein Mensch zu leben?
»Ich glaube, hier ist der Weg, Mr. Turnbull.«
Die Meldung des Fahrers bewahrt mich davor, Williams’ Behauptung leugnen oder bestätigen zu müssen. Todessehnsucht? Ich habe eher das Gefühl, dass ich wesentlich häufiger um mein Leben kämpfe, seit ich zum Vampir geworden bin, als die sterbliche Anna das je tun musste. Der Fahrer hat an der Abzweigung zu einer unbefestigten Straße gehalten, die auf der Rückseite mehrerer großer Anwesen verläuft. Sophie Deveraux’ Grundstück liegt auch daran.
Ich steige aus und sehe mich um. Das Deveraux’sche Anwesen besteht aus gut vier Hektar sanft gewelltem Weideland. Ich kann von hier aus gerade noch die Rückseite des Stallgebäudes erkennen. Der schmiedeeiserne Zaun, der das Grundstück nach vorn abgrenzt, zieht sich hinten herum.
Turnbull ist ebenfalls ausgestiegen und bleibt neben mir stehen.
»Ich gehe rein«, erkläre ich. »Geben Sie mir fünfzehn Minuten. Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, rufen Sie Williams an und sagen Sie ihm, dass es Ärger gab.«
Turnbulls Miene verfinstert sich. »Sind Sie wirklich sicher, dass Sie da reingehen wollen?«
Nein. Ganz und gar nicht. Wenn diese Sophie sich als weitere Sackgasse entpuppt, habe ich noch mehr kostbare Zeit verschwendet. Die wenigen Stunden, die Culebra noch bleiben. »Fünfzehn Minuten«, wiederhole ich, »dann rufen Sie Williams an.«
Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, bin ich vermutlich tot. Culebra und Frey ebenfalls, wenn Williams nicht noch eine Möglichkeit findet, das zu verhindern. Mein einziger Trost besteht darin, dass Williams wegen Ortiz’ Tod ein starkes persönliches Interesse daran hat, Burke zu finden. Wenn ich meine Freunde nicht retten kann, wird er es versuchen, das weiß ich. Ein kleiner Trost.
»Wir warten hier«, sagt Turnbull, der meine Gedanken gelesen, sie aber nicht kommentiert hat. »Seien Sie vorsichtig.« In seiner Stimme schwingt auf einmal eine Schärfe mit, eine Dringlichkeit, als könnte er das verstehen.
Vielleicht verwundert es ihn jetzt nicht mehr so sehr, dass ich es vorziehe, wie ein Mensch zu leben.
Kapitel 41
Über den Zaun zu springen, ist ein Leichtes. Ich renne an einem halben Dutzend Pferden vorbei, die auf der Weide grasen. Sie scheuen vor mir zurück, mit angelegten Ohren und rollenden Augen. Ich weiß nicht, ob ihnen die menschliche Anna oder die Vampirin so unheimlich ist. Als ich mich dem Stallkomplex nähere, halte ich mich außer Sicht des offenen Scheunentors. Ich kann dort drin niemanden hören oder spüren, aber ich will kein Risiko eingehen. Hundert Meter vom Stall entfernt liegt ein großzügiger Terrassenbereich. Da ist ein Swimmingpool, ein Umkleidehäuschen und etwas, das wie ein Gästehaus aussieht.
Nette Bude.
Ich ducke mich hinter eine Hecke und suche das Dach ab. Hier kann ich keine Überwachungskamera ausmachen. Seltsam, aber das Haus gehörte ja mal einem Vampir, und der fand wahrscheinlich, dass er so etwas nicht brauchte. Das Erdgeschoss des Hauses ist sehr weitläufig und langgezogen. Eine Flügeltür, die vom Haus auf die Terrasse führt, scheint der einzige Eingang zu sein. Die Tür wird von zwei gewaltigen Terrakottatöpfen flankiert, in denen hohe, immergrüne Bäume wachsen. Die perfekte Deckung, um das Innere des Hauses auszuspähen.
Auf den ersten Blick sehe ich dort drin nur Möbel. Der Raum ist ein Wohnzimmer, sehr förmlich eingerichtet mit zwei überdimensionierten Sofas und einem Couchtisch aus schwerem, dunklem Holz, der die Mitte des Raumes einnimmt. Rechts davon befindet sich ein offener Kamin. Auf der linken Seite steht ein Büfett. Die Sonne spiegelt sich blinkend in einem silbernen Teeservice, das hinter einer der Vitrinentüren ausgestellt ist.
Ich wage mich vor, um festzustellen, ob die Tür offen ist.
Da merke ich, dass in dem Wohnzimmer jemand ist. Ich gehe sofort wieder in Deckung, doch die Frau hat mich nicht gesehen. Sie steht im Schatten eines bogenförmigen Durchgangs auf der anderen Seite des Raumes, von mir abgewandt. Sie gestikuliert erregt mit den Händen, die Schultern sind
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