Anna Strong Chronicles 05 - Blutrotes Verlangen
erinnere mich an den Augenblick, ehe der Kelch zerbrach. Burke wurde auch mit hineingezogen. »Dann ist dieses Böse also…?«
»Es wurde auf sie selbst zurückgelenkt.«
»Kann sie das überlebt haben?«
»Was wir dort drin gesehen haben, war ein Bild meiner Schwester, sozusagen das Negativ. Nicht ihr körperliches Selbst. Sie lebt noch, aber der körperliche, seelische und geistige Schaden wird sehr lange brauchen, um zu heilen. Jahre. Vielleicht Jahrzehnte.«
Ich beobachte sie. Kummer und Schuldgefühle stehen in deutlichem Konflikt mit der schlichten Wahrheit. Burke hat ihr Schicksal durch ihr Handeln selbst herbeigeführt. Das reicht mir nicht. In meinem Inneren rumort meine eigene Wahrheit, und mich beruhigt es nicht, dass Sophie erklärt, Burke könne uns nicht mehr gefährlich werden. Für mich gilt nur eines: Solange sie lebt, stellt sie eine Bedrohung dar. Ich will sie tot sehen. »Weißt du, wo sie ist?«, frage ich leise.
»Nein.« Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. »Das ist die Wahrheit. Sie könnte auf der irdischen Ebene sein, aber auch auf einer anderen. Sie ist geflohen, um sich zu heilen. Ich kann sie nicht erreichen. Ich werde es auch nicht versuchen. Ich versichere dir, dass sie keine Gefahr mehr darstellt. Das ist alles, was ich dir anzubieten habe.«
Doch ich denke an Williams und Ortiz und diese Mädchen, die in der Fabrikhalle gefoltert wurden. »Sie muss sich für vieles verantworten. Ich glaube nicht, dass ich sie einfach davonkommen lassen kann.«
Sophies Stimme klingt ebenso entschlossen. »Dir bleibt vielleicht keine andere Wahl.« Wir gehen weiter den hölzernen Bürgersteig entlang. Der Wind hat ein wenig aufgefrischt, Staub wirbelt um unsere Füße, und Wolken huschen über den Himmel. Das Schweigen zwischen uns dehnt sich immer mehr aus.
Schließlich fragt Sophie: »Was hast du jetzt vor?«
»Ich weiß es nicht. Burke hat meine Freunde…«
»Nein. Ich meine nicht wegen ihr. Was willst du deinetwegen tun. Deveraux hat dich die Auserwählte genannt. Der Gedanke schien dir nicht zu behagen.«
Nicht behagen ist gar kein Ausdruck. Als ich nicht antworte, wendet Sophie sich mir zu. »Wir können nicht gegen unser Schicksal ankämpfen, Anna. Das sollten wir nicht einmal versuchen.«
Ich sehe ihr sanftes Lächeln in der Dunkelheit. Mir kommt ein Gedanke – wenn Williams das zu mir gesagt hätte… ach, Quatsch, das hat er ja schon hundertmal getan… dann würde ich sofort einen Buckel machen und die Krallen ausfahren. Sophie hingegen entlockt mir eine verblüffend klare Einsicht.
»Ich habe Angst.«
»Wovor?«
»Davor, dass ich nicht weiß, was es bedeutet, die Auserwählte zu sein.«
Sie lacht. »Das kannst du ganz leicht herauszufinden. Frag Williams.«
Ich schüttele den Kopf. »Er würde es mir nur zu gerne sagen. Aber das wäre seine Version. Ich traue ihm nicht. Er ist zu weit entfernt von…« Ich suche nach dem richtigen Wort. »Der Menschlichkeit?«
»Ja. Von seiner Menschlichkeit. Er hat vergessen, was es bedeutet, ein Sterblicher zu sein. Ich will nicht, dass mir das auch passiert.«
Wir haben das Ende des Bohlenwegs erreicht. Die unbefestigte Straße, die von Beso de la Muerte wegführt, liegt vor uns wie ein silbernes Band. Ich kann einen Wolf riechen, der in der Dunkelheit herumschleicht, den rasenden Herzschlag eines Kaninchens, und ich sehe die gewundene Spur, die eine Schlange auf ihrem Weg über den Wüstenboden hinterlassen hat. Die tierische Seite meines Wesens erkennt das Leben, das um mich herum wimmelt, unsichtbar für meine menschlichen Augen, und sie wird von diesen Lebewesen erkannt.
In der Dunkelheit klingt meine Stimme wie ein Echo, gequält und sehnsuchtsvoll. »Ich habe nicht darum gebeten, zum Vampir zu werden. Jeder Tag ist ein Kampf. Ich bin fest entschlossen, mich um meine Familie zu kümmern und um die Leute, die ich liebe. Ich glaube, ich hätte nicht die Kraft, noch mehr zu tun.«
Sophie legt mir seufzend die Hand auf den Arm. »Du bist viel stärker, als du glaubst, Anna. Du musst loslassen und deinen Instinkten vertrauen, statt gegen sie anzukämpfen.« Plötzlich beginnt sie zu zittern.
Sie ist erschöpft , sagt Deveraux tadelnd. Wir sollten zurückgehen .
Wir kehren um und spazieren zur Bar zurück. Goldener Lichtschein dringt aus den Fenstern und Türen. Lachen und Musik treiben mit dem Wind heran. Jetzt riecht es nach gegrilltem Fleisch, dem Parfüm von Frauen und dem animalischeren Geruch von Männern und
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