Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
stark, dass ich nicht mehr wusste, wann ich aufhören muss. Meine Gefühle sind mir peinlich, und ich verberge sie hinter einem Vorhang um meine sorgfältig gehüteten Gedanken. Ich will es ja aussprechen, ich will es Lance sagen, aber die Wahrheit ist zu beschämend, um sie ans Licht zu bringen. Ich war eifersüchtig. Eifersüchtig auf eine Sterbliche. Auf die Frau, die Lance höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hat.
Lance bricht das Schweigen als Erster. »Ich hätte dich nicht mit hierherbringen dürfen.« Seine schlichten Worte heizen meine Scham weiter an. Er macht sich Vorwürfe. Das ist nicht das, was ich erwartet hätte. Was ich verdient hätte. Meine Schultern spannen sich an, ein weiterer Schauder des Abscheus steigt mir wie Galle in die Kehle. Ich öffne den Mund, um ihm zu widersprechen, aber er legt mir den Zeigefinger an die Lippen.
Ich wusste nicht, dass er hier sein würde. Das war mein Fehler, ich hätte Adele danach fragen sollen, als ich gestern mit ihr gesprochen habe. Ich habe einfach nicht daran gedacht. Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf, aber das Wichtigste, was ich jetzt aussprechen muss, ist die Wahrheit. Du bist meinetwegen hier. Wegen dieses Dings, das mich in meiner Garage überfallen hat. Du bist hier, weil du mir helfen wolltest. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht.
Lance antwortet nicht. Seine Gedanken sind bekümmert, er lässt sich von mir nicht überzeugen. Ich umfasse sein Kinn mit einer Hand und drehe sein Gesicht zu mir herum. Wir müssen über Julian sprechen. Warum hat er dich gestern Nacht angegriffen? Und warum hast du es zugelassen?
Lance stößt einen langen Atemzug aus – eine menschliche Gewohnheit, die viele von uns nie ablegen. Er versucht nicht, sich mir zu entziehen, aber er weicht meinem Blick aus. Julian ist mein Meister. Ich bin ihm etwas schuldig.
Ihm etwas schuldig? Ich denke an die Bestie, die mich verwandelt hat – Donaldson. Er hatte gar nicht vor, mich zu verwandeln, er wollte mich vergewaltigen und umbringen. Irgendwie ist die Vorstellung, ihm etwas schuldig zu sein, ebenso abstoßend wie lächerlich. Ich setze mich im Bett auf, ziehe einen Zipfel des blutgetränkten Lakens hoch und halte es Lance vors Gesicht. Julian ist der Grund hierfür. Was zum Teufel hat das zu bedeuten? Er ist mehr als ein Vampir. Er besitzt magische Fähigkeiten. Wie ist er darangekommen?
Lance setzt sich ebenfalls auf und lehnt sich ans Kopfteil. Er behauptet, seine sterbliche Mutter sei eine Zigeunerin gewesen und sein Vater ein Hexer. Er ist seit fast fünfhundert Jahren ein Vampir. Ein Hexer? Mir stehen sofort Belinda Burke und ihre Schwester Sophie vor Augen. Beide sind Hexen. Die schwarzmagische Schwester, Belinda, habe ich eigenhändig umgebracht. Magische Fähigkeiten werden vererbt wie Körperbau oder Augenfarbe. Das erklärt, warum er sie besitzt, aber ich wusste nicht, dass auch ein Hexer ein Vampir werden kann. Zwei unglaublich mächtige Geschöpfe in einem. Was mich zur nächsten Frage führt.
Wie ist er zum Vampir geworden?
Diesmal zögert Lance nicht. Er fängt an zu erzählen, als könnte er damit die Last seiner Schuldgefühle erleichtern. Er wurde im sechzehnten Jahrhundert in Labourd im Baskenland geboren, während der Zeit der Inquisition. Sein Vater wurde als Sorginak, als Hexer, verbrannt. Seine Mutter konnte sich und ihr Kind mit knapper Not retten und nach Italien flüchten. Als er sechzehn Jahre alt war, wurde das Dorf, in dem sie lebten, von der Pest heimgesucht. Sie starb binnen weniger Tage. Auch Julian hielt man für tot und ließ ihn liegen. Da wurde er von einem geheimnisvollen Fremden »gerettet«, der ihn ins Leben zurückholte und ihn mit in seine Heimat nach Osteuropa nahm.
Lance stößt den Atem aus, wendet den Blick ab und sieht mich dann wieder an. Du wirst nicht glauben, wer ihn angeblich verwandelt hat.
Lass mich raten. Vlad Dracula. Wen sonst sollte ein derartiger Egomane sich als Meister aussuchen?
Lances Augenbrauen schießen in die Höhe. Woher weißt du das?
Wenn sein Gesichtsausdruck nicht so ernst wäre, würde ich jetzt lachen. Du machst Witze, oder?
Er schüttelt den Kopf. Nein. Und anscheinend kann er es auch belegen. Er hat Dokumente aus dem vierzehnten Jahrhundert, von denen er behauptet, Vlad hätte sie ihm gegeben.
Jetzt muss ich doch lachen. Wie konntest du ihm diesen Blödsinn glauben? Hat er dich damit verführt? Was war damals in deinem Leben los, dass du verletzlich genug warst, auf so einen
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