Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
weint. Er will sich nicht umdrehen, will mich nicht an seinen Gedanken teilhaben lassen. Ich habe mich noch nie im Leben so hilflos gefühlt. Also tue ich das Einzige, was mir einfällt. Ich drücke ihn noch fester an mich und halte ihn in den Armen, während er weint. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Lance lehnt still an mir, er zittert nicht mehr. Ich kann nicht lesen, was er denkt, weil er mich ausschließt. Und er will mir immer noch nicht ins Gesicht sehen.
Als das Wasser immer kälter wird, rüttele ich mich auf und lasse die Arme sinken. »Wir sollten hier raus.« Beim Klang meiner Stimme richtet er sich auf und öffnet die Tür der Duschkabine. Ich drehe das Wasser ab und steige nach ihm hinaus. Er wickelt sich ein Handtuch um die Taille. Als er sich umdreht und sieht, dass ich angezogen bin, wirkt er überrascht. Seine Miene wird finster vor Verlegenheit. »Ich habe nicht gemerkt, dass... «
Ich lege ihm sacht die Hand auf den Mund. »Ist schon gut.«
Ich schäle mich aus meinen Kleidern und lasse sie ins Waschbecken fallen. Als ich nackt bin, kommt er zu mir und wickelt mich in ein Handtuch. Seine Hände zittern, seine Finger sind noch eisiger als sonst. Wenn er ein Mensch wäre, würde ich sagen, dass er unter Schock steht. Ich weiß nicht, ob Vampire an so etwas leiden können.
Ich nehme ihn bei der Hand und führe ihn ins Schlafzimmer. Ich schirme meine Gedanken nicht gegen ihn ab und fühle, wie Lance sie liest, während wir erschöpft unter die Bettdecke kriechen. Unsere Körper berühren sich nicht, aber ich habe die Gegenwart eines anderen noch nie so bewusst gespürt. Uns verbindet jetzt mehr als gegenseitige Anziehung oder sexuelle Verfügbarkeit. Es ist passiert, ohne dass ich es gemerkt habe. Ohne dass ich damit einverstanden war. Aber es ist passiert.
Die Gefühle, die mich überwältigt haben, als ich Lance in diesem Keller entdeckt habe. Die Eifersucht, als ich erkannt habe, dass er bei einer anderen Frau war – und sei es, um zu trinken. Die abgrundtiefe Wut, die in mir kocht, wenn ich an Underwood denke. Die Befriedigung, die ich empfinden werde, wenn ich ihn für alles bezahlen lasse, was er getan hat. All das ist wirklich und machtvoll und entspringt dem einen Gefühl, das ich mein ganzes menschliches Leben lang erfolgreich gemieden habe. Dem einen Gefühl, von dem ich mir nie hätte träumen lassen, dass ich es als Vampirin erleben würde.
Dem Gefühl, von dem ich dachte, es würde mir für immer versagt bleiben. Lance dreht sich auf die Seite und schaut auf mich herab. Sein Haar umrahmt sein schönes Gesicht und schimmert in der Dunkelheit wie von hinten angestrahlt. »Aber du kannst es immer noch nicht aussprechen, nicht wahr?«
Ich rolle zu ihm herum, streiche ihm eine Locke aus dem Gesicht und berühre seine Wange. »Du weißt es«, flüstere ich.
»Ist das nicht genug?«
Kapitel 13
Lance schläft neben mir. Warum bin ich dann wach? Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt sechs Uhr früh an. Wir sind erst vor wenigen Stunden ins Bett gegangen. Es liegt an der Sonne. Die verfluchte Wüstensonne dringt durch einen Spalt zwischen den Vorhängen und zielt mit einem lasergleichen Lichtstrahl direkt auf meine Augen. Ein kosmischer Weckruf. Deshalb also bin ich wach. Ich hebe den Kopf und schnuppere. Deshalb, und weil es nach Kaffee duftet.
Ich wälze mich stöhnend herum. Adele muss schon wach sein. Erinnerungen an die vergangene Nacht steigen in mir auf. Ich richte mich auf und beuge mich über Lance. Er wirkt friedvoll. Ich bezweifle, dass das so bleiben wird, wenn er aufwacht und ich anfange, Fragen zu stellen.
Ich muss herausfinden, warum Underwood ihn so grausam zugerichtet hat. Ich muss herausfinden, welche Rolle ich dabei spiele, denn das ist das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß: Der Kern von Underwoods Grausamkeit bin ich. Er wollte gestern Abend etwas von mir, und als er es nicht bekommen konnte, hat er seine Wut an Lance ausgelassen.
Warum sollte Lance das zulassen? Warum hat er sich nicht gewehrt? Oder hat er sich gewehrt und ist deshalb so misshandelt worden? Ich rutsche vorsichtig von ihm weg, denn ich will ihn nicht stören. Leise schwinge ich die Beine über die Bettkante. Ein Arm legt sich um meine Taille und zieht mich zurück. »Wo willst du hin?«
Lance schließt die Arme um mich und drückt mich an sich, so dass sein Kopf auf meiner Schulter liegt. Unsere Körper passen perfekt zueinander wie zwei Hälften, die ein Ganzes ergeben. Es fühlt sich
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