Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
weshalb diese Bauern taten, was sie dann taten. Vielleicht hatten sie Angst davor, was passieren würde, falls man mich bei ihnen fand. Vielleicht fürchteten sie, dass man ihnen die Schuld an meinem Tod geben würde. Aber sobald sie erkannten, dass es mir nur immer schlechter ging, brachten sie mich in ein Gebiet namens Tsingy. Heute ist es ein Nationalpark, aber neunzehnhundertzweiundvierzig war es nur ein abgelegener Urwald mit Kalksteinfelsen, Mangrovensümpfen und Seen. Dort ließen sie mich zurück, mit Wasser und ein wenig Essen.«
Lance reibt sich das linke Bein, als spürte er den geisterhaften Schmerz einer längst verheilten Wunde. Ich lege eine Hand auf seine, damit er aufhört. »Was ist dann passiert?«
Er schließt die Augen. »Ich war halb wahnsinnig vom Fieber, im Delirium. Tagelang bin ich halb gekrochen, halb getaumelt, bis ich nicht mehr weiterkonnte. Schließlich habe ich mich einfach auf den Boden gelegt und auf den Tod gewartet. Ich wusste nicht, wie weit ich gekommen und wie lange ich schon allein war. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war der Nachthimmel. Ich sah die Mondsichel, und der Himmel glitzerte vor Sternen. Plötzlich wurde einer dieser Sterne zu einem Feuerball, der über den Himmel schoss. Er flog wie ein Regenbogen von Osten nach Westen, mit einem schillernden Schweif. Eine Sternschnuppe. Dann hielt er plötzlich inne. Er schien direkt über mir in der Luft zu schweben. Ich streckte die Hand danach aus, und ein Schatten schob sich zwischen uns. Der Schatten wurde zu einer Gestalt, dann bekam er ein Gesicht. Er wurde zu einem Mann.«
Lance reibt sich die Augen und zieht scharf die Luft ein. »Er beugte sich über mich und stellte mir eine einzige Frage. ›Wünschst du dir den Tod oder die Unsterblichkeit?‹ Einfache Frage. Ich konnte ja nicht ahnen, welch komplizierte Folgen meine Antwort haben würde.« Er lächelt schief. »Diese Geschichte habe ich noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal Stephen oder sonst einem der anderen. Wir waren Brüder, aber wir alle wahrten das Geheimnis unserer Verwandlung. Julian hat uns das nie befohlen. Aber irgendwie wussten wir, dass er sich nicht gerade freuen würde, wenn wir davon erzählten.«
»Was hatte Underwood denn in einem Urwald in Madagaskar zu suchen?«
Er zuckt mit den Schultern. »Damals war ich zu krank und elend, um danach zu fragen. Später erschien es mir nicht mehr wichtig. Er hat mich gerettet. Dachte ich jedenfalls.« Lances Stimmung schlägt ganz plötzlich um. Er ist nervös und ängstlich, als wäre ihm aufgefallen, dass Julian sich auch nicht gerade darüber freuen würde, wenn er mir diese Geschichte erzählt.
Ich streichle seinen Arm und versuche ihn mit einem herzlichen Lächeln zu beruhigen. »Er wird nie erfahren, dass du mir das erzählt hast. Wie ging es weiter, nachdem er dich in Madagaskar gefunden hatte?«
Doch er lässt sich von meiner Berührung und meinem Lächeln nicht beruhigen. Er runzelt die Stirn, dreht wieder die Kaffeetasse in der Hand herum, und seine Gedanken sind aufgewühlt und zusammenhanglos. Er macht sich verrückt vor Angst, dass er etwas Falsches getan hat, dass Underwood es irgendwie doch wissen wird, und dass er mich in Gefahr gebracht hat.
»Lance.« Ich packe ihn bei den Schultern. »Julian wird dir nie wieder weh tun. Und mir auch nicht.«
Sein Blick ist panisch. »Er ist zu stark. Er weiß so viel. Er weiß von dir und was du bist. Er dachte, ich wollte dich gestern Abend zu ihm bringen. Dich ihm liefern. Deshalb ist er so wütend geworden. Er hat erkannt, was ich für dich empfinde. Deshalb hat er... «
Seine Stimme bricht. Ein ersticktes Schluchzen dringt aus seiner Kehle. Er zittert vor Angst, und ich weiß nicht, was ich tun soll. So etwas ist mir noch nie begegnet. Selbst Avery, der Vampir, der mir in den ersten Wochen nach meiner Verwandlung mein neues Leben zur Hölle gemacht hat, war nicht in der Lage, eine so starke Kontrolle auszuüben. Er hat sich der subtileren Macht der Verführung bedient, und auch das funktionierte nur, wenn wir zusammen waren. Underwoods Macht hat offenbar die Wucht eines Vorschlaghammers, und er kann sie über Raum und Zeit hinweg einsetzen.
Mir wird klar, dass ich nur eine Möglichkeit habe, etwas dagegen zu unternehmen. Ich muss Lance hier wegbringen. Dann kann ich in Ruhe über alles nachdenken, was ich erfahren habe, und mir einen Plan einfallen lassen, wie ich Underwoods Kontrolle brechen kann. Mein erster Impuls – ihn zu
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