Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
sich irgendeine Geschichte darüber aus, dass David und ich wegen eines Auftrags außerhalb der Stadt unterwegs seien. Er muss den beiden versichern, dass die Sache mit dem Unfall falscher Alarm war und dass wir uns Ende der Woche bei ihnen melden werden.
Entweder das, denke ich sarkastisch, oder wir sind tot. Nachdem ich aufgelegt habe, durchquere ich die Kabine und gehe schnurstracks zur Bar. Ich schenke zwei Drinks ein. Scotch, pur. Einen kippe ich mit einem einzigen Schluck im Stehen an der TeakholzTheke hinunter und genieße das Brennen, mit dem der Alkohol meine Kehle versengt, um dann wie ein kleiner Feuerball in meinem Magen zu lodern.
Den zweiten Drink nehme ich mit und mache es mir damit wieder in meinem Sitz gemütlich. Jetzt muss ich zuallererst dahinterkommen, was Mrs. Williams vorhat. Sie hat David, daran zweifle ich nicht im Geringsten. Warum sie ihn entführt hat, das ist die Frage. Will sie sich damit nur für den Tod ihres Mannes rächen oder steckt mehr dahinter?
Warren Williams war unerschütterlich von meiner rätselhaften Bestimmung überzeugt und hat auch ständig davon gesprochen. Sicherlich hat er sich auch bei seiner Frau darüber ausgelassen. Als Sterbliche hat sie sich sein Geschimpfe über mich wahrscheinlich eher gelangweilt angehört. Wie ignorant ich doch sei, wie untauglich als Vampir, und dass ich so gar kein Interesse daran hätte, mehr zu lernen. Sie weiß mehr darüber, was es bedeutet, »die Eine« zu sein, als ich. Verdammt, ich habe keinen blassen Schimmer, was es bedeutet, und inzwischen wünschte ich wirklich, ich hätte mir die Zeit genommen, mehr zu lernen. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass zu diesem Titel große Macht gehört. Es kann nicht anders sein. Williams und Avery ging es immer um Macht – sie wollten sie besitzen, kontrollieren, noch mehr davon ansammeln. Und das könnte das Problem sein.
So, wie ich das sehe, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder will Mrs. Williams dafür sorgen, dass ich diese rätselhafte Bestimmung erfülle und irgendeine Krone aufsetze, als Tribut an ihren verstorbenen Mann. Oder sie will die Krone für sich haben.
Kapitel 33
Es ist kurz vor zwei Uhr nachmittags, als wir in San Diego landen. Das ist befremdlich, denn wir sind um neun Uhr morgens in Frankreich weggeflogen und waren dreizehn Stunden unterwegs. Als wäre alles andere nicht schon schlimm genug, wird der Jetlag dies zu einem höllisch langen Tag machen. Der Pilot rollt von der Landebahn zum Jimsair, dem privaten Terminal. Erst frage ich mich, woher er wissen kann, dass wir dorthin müssen, dann geht mir auf, wie dämlich diese Frage ist. Natürlich weiß er es. Da hat er mich schließlich auch abgeholt, bewusstlos und in Begleitung von Lance. Als ich von Bord gehe, wartet schon ein Angestellter von Jimsair. Er spricht kurz mit dem Piloten und wendet sich dann mir zu.
»Wie immer, Miss Strong?« Da ich keine Ahnung habe, was er damit meint, nicke ich nur. Beim ersten Mal hat Williams sich um alle Einzelheiten gekümmert. Als ich nach Frankreich zu meiner Familie wollte, habe ich einfach den Piloten angerufen, der mich damals geflogen hatte, und ihm gesagt, wann ich fliegen will. Er hat den Rest erledigt. Ich sollte mich wohl mehr für so etwas interessieren.
Das kommt ganz oben auf meine Todo-Liste, wenn ich David wohlbehalten zurückgeholt und Lance umgebracht habe. Aber vorerst... »Ich brauche ein Taxi. Kann ich drinnen telefonieren?«
Der Mann nickt und weist auf die Lounge. »Georgia wird Ihnen gern behilflich sein.«
Ich bedanke mich und beschließe, direkt nach Hause zu fahren. Ich will aus diesem lächerlichen Outfit raus und so schnell wie möglich nach Beso de la Muerte. Ich habe einige Fragen an Culebra, und er hat sicher auch einige an mich. Ich schiebe die Flügel der altmodischen Schwingtür auf. Culebra schaut hoch, runzelt die Stirn und begrüßt mich mit einem barschen »Ich habe mich schon gefragt, wann du auftauchen würdest«.
Er steht hinter der Bar und poliert Gläser. Er könnte eine Art mexikanisches Clint-Eastwood-Double sein: wettergegerbtes, rauhes Gesicht, leicht hängende Schultern, hagerer Körper, eine Jeans und ein langärmeliges Hemd, die von zu viel Sonne und Waschmittel verblichen sind. Normalerweise würde man ihn für einen der guten Jungs halten. Heute jedoch ist seine Stimmung finster und gefährlich. Heute passt der Name Culebra, der zugleich seine zweite Gestalt ist: Klapperschlange.
Ich sehe mich um. Die Bar ist verlassen.
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