Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
gleichen Ziele wie er. Da hat er sich getäuscht, und dafür ist er als Häuflein Asche in einem verbrannten Auto geendet.«
»Und was ist mit Underwood und Lance?«
»Underwood ist tot, Lance nicht. Jedenfalls noch nicht.«
Meine Geschichte ist zu Ende, und Culebra schweigt erst einmal. Der Blick seiner dunklen Augen scheint sich in meinen Kopf zu bohren. Als er mir zu durchdringend wird, fahre ich ihn an: »Was ist?«
»Du bist allzu nonchalant, was Lance angeht. Erzähl mir nicht, dass dich diese Sache emotional nicht schwer getroffen hat. Du hast selbst gesagt, dass ihr euch sehr nahegekommen seid.« Ich schnaube und trinke weiter. Die Geschichte jemandem zu erzählen, hat die Vampirin wieder an die Oberfläche gebracht. Ich habe immer noch Underwoods Blut in mir, das sich wie ein Fluss aus Säure anfühlt. Insgeheim hatte ich gehofft, hier einen Wirt zu finden und das Gift verdünnen zu können. Emotional bin ich im Augenblick vor allem enttäuscht.
»Das redest du dir vielleicht ein«, sagt Culebra, der meine Gedanken gelesen hat. »Aber Underwoods Blut loszuwerden ist nicht der einzige Grund, weshalb du hergekommen bist.« Nein. Aber es ist auch nicht so, wie er glaubt. Ich bin nicht hier, weil ich psychologische Beratung bräuchte.
»David ist verschwunden. Ich glaube, Mrs. Williams hat ihn entführt. Vermutlich will sie in die Fußstapfen ihres Mannes treten und mich zwingen, die Bestimmung zu akzeptieren, um derentwillen ihr Mann gestorben ist. Du und ich, wir haben noch nie darüber gesprochen. Also frage ich dich jetzt: Weißt du, was es bedeutet, die Auserwählte zu sein?«
Culebras Miene wirkt distanziert. Ich kann nicht erkennen, ob er in seinem Gedächtnis nach der Antwort sucht oder ob er sie kennt und vor mir verbergen will. Er hat mich ausgeschlossen, und ich kann nur warten und an meinem Corona nippen, bis er beschließt, aus seinen Gedanken zurückzukehren. Endlich ist er wieder da.
Noch ehe er den Mund aufmacht, sehe ich, dass mir nicht gefallen wird, was er mir zu sagen hat. Seine Augen verraten es mir. Sie sind wieder kalt wie Stahl.
»In diese Dinge kann ich mich nicht einmischen.« Sein Tonfall ist förmlich und so kalt wie seine Augen. »Das ist eine Angelegenheit der Vampire. Die übernatürliche Gemeinde ist schon lange gespalten in der Frage, welchen Platz sie in dieser Welt einnehmen sollte. Aber es gibt einen Grundsatz, den alle hochhalten: Wenn ein Auserwählter kommt, bedeutet das entweder den Anfang oder das Ende für unser aller Schicksal. Ich kann dir nichts raten, Anna, denn wenn es stimmt und du tatsächlich die Auserwählte bist, dann liegt es an dir, die Welt zu formen. An dir allein.«
Noch mehr existenzieller Mist. Ich falte die Hände, um mich davon abzuhalten, ihm über die Bar hinweg eine zu knallen. »Hallo, du redest hier mit Anna«, flüstere ich mit vor Wut erstickter Stimme. »Ich konnte mich nicht einmal vor meinem verblendeten Freund und seinem psychotischen Meister schützen. Was meinst du wohl, wie ich mich anstellen werde, wenn ich die Welt verändern soll?«
Culebra, mein Culebra, lächelt doch tatsächlich herzlich. Er neigt den Kopf zur Seite und zwinkert mir zu. »Du wirst tun, was du immer tust, wenn die Zeit gekommen ist.« Er berührt seine Brust mit einer geballten Faust. Das sieht aus wie der Gruß der alten Römer.
»Und was soll das heißen?«
»Du wirst deinem Instinkt folgen, deinem Herzen. Mehr kann man von niemandem erwarten. Auch nicht von einer Auserwählten.«
Ich trinke den letzten Schluck und stelle die leere Flasche auf den Tresen. »Nicht gerade ein praktischer Ratschlag.«
Er weist auf die Flasche. »Noch eines?«
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Noch Stunden, bis es endlich dunkel wird. »Warum nicht?«
Er hat den Kühlschrank geöffnet und will gerade ein Corona herausholen, als die Schwingtür aufgeht. Er blickt auf, und ich drehe mich auf dem Barhocker herum. Daniel Frey marschiert herein.
Kapitel 35
Ich springe vom Barhocker, um meinen Freund zu begrüßen, und Culebra kommt hinter dem Tresen hervor. Er und Frey umarmen sich schulterklopfend. Eine ungewöhnlich herzliche Geste für Culebra. Offenbar hat er bei Freys Anblick Gewissensbisse wegen seines Wutausbruchs von vorhin bekommen. Als die beiden auseinandertreten, drücke ich Frey ordentlich an mich und mustere ihn dann von oben bis unten.
Er trägt eine Bundfaltenhose, ein kurzärmeliges Hemd mit Palmendruck auf cremeweißem Hintergrund, dazu
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