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Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)

Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)

Titel: Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rina Bachmann
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hoch und fanden ihn in der Zelle der Kleinen bewusstlos, mit blutendem Kopf liegen. Sie schleppten ihn nach unten in den Aufenthaltsraum, versuchten ihn wieder zu beleben und riefen einen Arzt.
    Der Kumpel kam noch einmal zu sich und erzählte, was mit ihm in der Zelle der Kleinen passiert war. Im Morgengrauen starb er. Herzinfarkt, sagte der Arzt.
    Diese Nachricht versetzte die Bewohner der Stadt in eine heillose Panik. Die Dürre schien kein Ende zu nehmen, die Gemüter waren endgültig überhitzt. Die Mehrheit forderte den Tod der Kleinen. Sie sollte auf dem Marktplatz hingerichtet werden, wo schon immer die Hexen verbrannt worden waren. Das Gericht war bereit, ihr Schicksal im Schnellverfahren zu besiegeln.
    Sie ahnte nichts, nehme ich mal an, wollte immer noch nichts essen und saß wie eine Statue da mit ihrem gewohnten Blick ins nirgendwo. Sie schien gar nichts um sich wahrzunehmen. Es war, als ob sie die Wand und alles um sich herum gar nicht sah, als ob ihre Augen nach innen gerichtet waren. Sie war in Wirklichkeit ganz woanders. So sah ich sie, als ich eines Tages in ihre Zelle reinging.
    Ich fand es unmenschlich, wie die Kleine behandelt wurde. Sie konnte den Kumpel nicht getötet haben. So ein hilfloses, dünnes Mädel, das schon lange nichts mehr gegessen hatte, konnte so einem kräftigen Mann, so einem Schrank, wie Eddie es war, nichts anhaben. Er war ja so, dass er gerne mal die eine oder die andere Geschichte bunt ausmalte, besonders wenn er schon einiges intus hatte. Und das war gar nicht mal so selten. Er liebte es, wenn man ihm an den Lippen hing und an seine Mären glaubte. Da war er ganz stolz darauf. Er fing gewöhnlich damit nach einer großen Flasche Wein an.
    An dem Tag, knapp nach einer Woche nach Eddies Tod, wärmte ich mein Mittagessen auf, das meine Frau mir mitgegeben hatte, und brachte es der Kleinen in die Zelle. Ich dachte, es war ja kein Wunder, dass sie nichts anrührte. Das Zeug, was ihr verabreicht wurde, konnte so oder so kein Mensch essen. Ich dachte, vielleicht wenn ich ihr etwas mitbringe, was lecker riecht, was gut ist, dann würde sie Appetit bekommen und endlich etwas essen. Ich stand vor ihr und fragte sie freundlich, ob sie nicht etwas zu sich nehmen möchte: etwas von dem Eintopf mit viel Rind und leckerem Schweinefleisch, den meine Frau gestern gekocht hatte.
    Die Kleine reagierte nicht. Sie starrte immer noch sumpf vor sich, als ob ich gar nicht da wäre.
    Ich stellte dann den Topf unweit von ihr in der Mitte der Zelle auf den Boden hin, daneben einen Teller mit frischem Brot und ging.
    Am späten Abend, als ich vor Ende der Schicht das Geschirr abholen wollte, ging ich wieder zu ihr hoch. Da musste ich zweimal gucken. Aber es war, wie es war. Nichts zu ändern. Die Kleine war weg. Der Topf stand auf dem Boden, genau an der Stelle, wo ich ihn hingestellt hatte. Das Essen war unberührt, das Brot trocken. Ich stellte mich auf den Stuhl und guckte aus dem Fenster. Die Möwen kreisten hoch im dunkel werdenden Himmel. Das Meer plätscherte unten friedlich bei den Mauern. Keine Leiche war weit und breit zu sehen, nichts dergleichen. Alles war wie immer. Nur das Mädel war nicht da. Ich nahm die Sachen mit, ging nach unten und meldete Verschwinden der Kleinen. Kurz darauf sperrten sie mich hier auch ein. Ich wäre für ihr Abtauchen verantwortlich, sagten sie.“ Der Mann schüttelte verzweifelt den Kopf.
    Die Tür ging wieder zu. Anna, Ian und der alte Herr der Unterwelt standen wieder in der Dunkelheit des Ganges. Keiner sagte ein Wort.
    „Woher kennt sie denn die ganze Geschichte mit dem Wächter?“, fragte Anna schließlich. „Das ist ja unmöglich.“
    „Ich weiß nicht, woher“, antwortete der alte Herr achselzuckend. „Aber sie ist da. Hier ist sie unter vielen anderen Dingen aus ihrer Vergangenheit weggesperrt.“
    „Du weißt ja, dass sie es mit dem Gedankengut anderer nicht so genau nimmt. Sie hat sie, schätze ich, dem Mann weggenommen“, riet Ian.
    Der alte Herr lief ein Stück weiter und hielt bei der nächsten Tür an. „Hier“, sagte er und die beiden hörten, wie sie quietschend aufging. „Hier geht es weiter.“
    Anna blickte als Erste in den schmalen Spalt, schlug rasch die Hand vor dem Mund und sah mit weit aufgerissenen Augen zu Ian, dann zum alten Mann und zurück in das Zimmer. Sie atmete schließlich tief durch und zog die Tür weiter auf. Ian spähte über ihre Schulter hinein.
    Es war wieder eine Zelle: graue poröse Wände aus grob

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