Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Veränderung stattfindet, in einer eigenständigen, somit in gewisser Weise parallelen, Zeit.“
„Den Teufel gibt es also auch nicht?“
„Die Geschichte vom strahlendsten aller Engel, dem Engel des Lichts, Luzifer, den der Hochmut dazu verleitet, dass er sich von Gott abwendet, und der an dessen Stelle von anderen Geschöpfen verherrlicht werden will, ist ein wunderbares Lehrstück gegen den Hochmut. Sie wird Gottes Majestät jedoch nur dann gerecht, wenn man davon ausgeht, dass dieser Engel Gottes Gegenwart ähnlich dem Menschen auf Erden nicht erlebt hat – im Grunde also nicht so tief gefallen ist, wie die Geschichte traditionell annimmt. Hätte er sie erlebt, hätte er seine vollkommene Glückseligkeit darin erkannt, Gott anzubeten und zu preisen, und seine eigene Verherrlichung nicht mehr begehrt.“
„Wenn allen Menschen am Ende diese Glückseligkeit zuteilwird, wie Sie annehmen, warum ist es dann nicht egal, was sie im Leben tun? Sie könnten doch ohne weiteres Morden und Schlimmeres. Es würde nichts ändern.“
„Es würde ihren persönlichen Weg der Vervollkommnung ändern. Sie müssten ihr Ziel auf einem anderen, vielleicht einem weiteren und beschwerlicheren Weg erreichen. Dass auch sie das Ziel am Ende erreichen, davon bin ich überzeugt, weil ich auf Gottes Güte und Allmacht und seine Verantwortung für den kleinsten Teil der Schöpfung vertraue – kein Spatz fällt ohne ihn vom Himmel, wie es in der Schrift heißt.“
„Also trägt er auch die Verantwortung für Annabells Tod, falls es dazu kommt.“
„Ja, auch für das Ende des irdischen Teils ihres unsterblichen Lebens.“
„Wie erhalten Sie bloß Ihren Optimismus?“
„Es ist weithin ein Gefühl, ein irrationaler Glaube an die Güte. Dieser Glaube ist auch geprägt von meinem Verständnis der christlichen Botschaft: Die frohe Botschaft hat gerade zum Inhalt, dass Gott für seine Schöpfung sorgt, dass er die Menschen liebt, um ihr Leid unmittelbar weiß, sie annimmt ungeachtet ihrer Verfehlungen.“
„Dass dieser perfekte Gott ein echter Mensch geworden ist und für unsere Sünden leiden musste, glauben Sie also nicht?“
„Ich sehe den historischen Jesus von Nazareth nicht als fleischgewordenen Gott im traditionellen Sinne an, meine also nicht, dass er zugleich ganz Mensch und ganz Gott war – wie sollte das auch vorstellbar sein, ohne den Inhalt der Begriffe ‚Gott‘ und ‚Mensch‘ zu entstellen? Ich vermute, Jesus selbst hätte diese Vergöttlichung als blasphemisch betrachtet. Er hielt sich vermutlich für den letzten großen Propheten vor Anbruch der Gottesherrschaft auf Erden, die in dieser erwarteten Form nicht eingetreten ist. Aber ich glaube, dass er ein Mensch war, der von Gottes Geist in besonderem Maße, möglicherweise erst ab einem bestimmten Lebensalter, erfüllt war, sodass er aufgrund seines besonderen Zugangs zur jenseitigen Realität, aus freier Entscheidung sein Dasein in besondere – nicht notwendigerweise vollkommene – Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen gesetzt hat. Er ist ein Mensch wie wir, nur das Ausmaß seiner Gotteserkenntnis war vermutlich größer als das des Durchschnittsmenschen, wie es auch bei anderen historischen Personen aus vielen Religionen der Fall gewesen sein dürfte. Jesu Gleichnisse und Lehren sprechen zu uns von seinem Vertrauen in den himmlischen Vater. Die mythologischen Geschichten von den Wundertaten und Heilungen verweisen uns auf die gesundende Allmacht Gottes – selbst wenn es sich nicht um historische Wahrheiten handelt und Jesu Reden, oder das, was von ihnen überliefert ist, durch einen konkreten historischen und sozialen Kontext gefärbt ist und keine wörtliche Offenbarung Gottes darstellt.
Eine wesentliche Aussage des christlichen Mythos ist für mich die, dass der eine Gott, der Schöpfer und Erhalter der Welt, der in Ewigkeit, Vollkommenheit und Unendlichkeit ist, eintritt in die Begrenztheit und Zeitlichkeit dieser Welt, wo Werden und Vergehen sind, indem er das Leid und den Tod am Kreuz erfährt, indem er das Leben und Leiden des Menschen selbst erlebt. Nicht das luxuriöse Leben eines Fürsten, sondern das Leben eines Mannes, der in einem Stall das Licht der Welt erblickt und eine der schrecklichsten Matern des Menschseins erduldet und somit auch als Sinnbild steht für alle Menschen und alles Leid. Das allein ist nun schon eine wichtige Aussage – Gott, unwandelbar, somit nicht leidensfähig, und in höchstem Maße aktiv, erfährt in einer
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