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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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Gewohnheit – in die Offensive: „Aber nur bei manchen. Bei Dir würde es mir sicher nicht so leicht gelingen.“ Mehr als alles andere fragte ich mich, ob das stimmte.
    „Wer weiß … Du hast es ja noch nicht versucht“, entgegnete sie erstaunlich selbstbewusst und sah mich herausfordernd an.
    Flirtete sie mit mir?
    „Na ja. Du bist meine kleine Schwester, ich Dein Vormund. Das wäre wohl gegen die Vorschriften“, wich ich ihr aus.
    „Ich frage mich, ob Vorschriften Dich abhalten könnten, wenn Du Dir etwas in den Kopf gesetzt hast“, stellte sie fest, während sie ein hereinkommendes Segelboot beobachtete.
    Ahnte sie, wie sehr sie mir gefiel? Wollte sie ein für alle Mal klarstellen, dass wir Geschwister waren? Ich wusste nicht recht, worauf das Gespräch hinauslaufen würde. Also ließ ich es dabei bewenden und wechselte das Thema:
    „Glaubst Du eigentlich an die Dinge, die der Reverend in seinen Predigten anspricht? Einen lieben Gott, Leben im Jenseits und so etwas?“
    Ich war tatsächlich neugierig.
    Annabell antwortete nicht gleich. Offenbar überlegte sie, wie sie die Antwort formulieren sollte.
    „Meistens“, sagte sie dann. „Ich glaube an Gott und dass er die Menschen liebt. Aber manchmal, wenn ich über den Tod nachdenke, kommen mir Zweifel. Und dann werde ich traurig. Ein Leben ohne Gott, ein Leben, das mit dem Tod endet, ein Leben ohne Aussicht auf ein Reich der Güte und Gerechtigkeit und Liebe das wäre wirklich traurig. Aber wenn ich aufhöre, nachzudenken und nur auf mein Herz höre, ist eigentlich kein Zweifel da. Dann bin ich mir beinahe sicher, dass es Gott gibt.“
    Die Antwort überraschte mich und doch passte sie zu Annabell: Sie war so vernünftig, so kein bisschen oberflächlich. Ein siebzehnjähriges Mädchen, das über den Tod nachdachte. Viele in dem Alter – und auch in meinem Alter – machten sich nie solche Gedanken und das war wahrscheinlich auch besser so. Sonst war man doch nur deprimiert. Aber sie hatte schließlich erst ihre Eltern verloren, jetzt ihre Großmutter.
    „Denkst Du denn oft über den Tod nach?
    „Manchmal. Wenn ich alleine bin. Aber nicht, wenn Du da bist.“
    Die letzte Bemerkung war ihr herausgerutscht und sie errötete leicht.
    Es bedeutete ihr offenbar viel, dass ich da war. Wie gut sich das anfühlte und gleichzeitig wie traurig. Denn wenn ich meinem Vorsatz treu bleiben wollte, würde ich sie bald verlassen.
    „Glaubst Du denn nicht an Gott?“, fragte Annabell – offenbar auch um abzulenken. Sie stellte die Frage so, als wäre das etwas kaum Vorstellbares.
    Wie sollte ich am besten antworten. Sollte ich ihr diese albernen Illusionen nehmen, indem ich sie mit den vielen ungeklärten Fragen und inneren Widersprüchen des christlichen Glaubens oder religiösen Glaubens überhaupt konfrontierte? Aber was hätte das für einen Zweck? Sie schien zufrieden mit dem, was sie glaubte. Warum also sollte ich das zerstören, ohne etwas Besseres zu haben, das ich ihr anbieten konnte.
    „Sagen wir mal so: Als Kind habe ich an Gott geglaubt. Aber heute denke ich eigentlich nicht viel darüber nach. Ich lebe im Hier und Jetzt. Was habe ich davon, wenn ich mir darüber Gedanken mache, ob es ihn gibt oder ob es nach dem Tod weiter geht?“
    „Hoffnung, zum Beispiel?“
    „Ein griechischer Philosoph, Epikur, hat einmal sinngemäß gesagt: Wenn ich da bin, also wenn ich denke, fühle, wahrnehme, ist der Tod nicht da. Wenn aber der Tod da ist, bin ich nicht mehr da. Der Tod hat also keinerlei Schrecken für mich.“
      „Vielleicht triffst Du auch ganz andere Entscheidungen in diesem Leben, wenn Du an Gott glaubst, setzt andere Prioritäten.“
    Es war wirklich verblüffend. Sie hörte sich an wie McCandle, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie nur nachplapperte, was der Reverend predigte. Sie dachte über diese Dinge nach – sehr ernsthaft nach. Vielleicht hatte sie sogar recht . Vielleicht machte es einen Unterschied, wie man zu diesen Fragen stand.
    „Du meinst, ohne Gott als Ursprung und Idee des Guten, sozusagen als objektiven Maßstab, wie der Reverend ihn darstellt, gäbe es nur menschliche Meinungen und Maßstäbe, keinen Halt für den Menschen, keinen Grund, warum der Mensch einem anderen nicht den Kopf einschlagen sollte? Wenn ich ohnehin keine unsterbliche Seele zu verlieren oder zu beschädigen hätte, könnte ich ohne Bedenken morden, brandschatzen und vergewaltigen, soweit mich äußere Umstände nicht hindern? Das Recht des

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