Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
zu meinem Vergnügen zu benutzen. Ja, es war falsch. Das war mir inzwischen klar geworden.
Ich fragte mich, wie Annabell damit umgehen würde, wenn sie es wüsste. Ob sie mir verzeihen könnte? Hätte ich mir verzeihen können, wenn ich meinen Plan in die Tat umgesetzt hätte?
Gott hätte mir verziehen, predigte McCandle. Er hätte mir die Gnade zuteil werden lassen, meinen Fehler zu erkennen und mich in Liebe aufgenommen. Aber wollte ich jemand sein, der es nötig hatte, aufgenommen zu werden?
Doch was spielte das für eine Rolle? Ich glaubte nicht an Gott. Gott war eine Fiktion. Was also bedeutete mir das Mädchen und ob es ihm gut ging eigentlich?
Wenn ich Annabell in Ruhe ließ, wie ich es mir vorgenommen hatte, würden wir über kurz oder lang ohnehin getrennte Wege gehen. Wenn die Woche um war, würde ich wieder arbeiten. Der Vormundschaftsbeschluss würde erfolgreich angefochten, wenn ich die Anwälte nicht zurückpfiff. Dann würde ich Annabell aller Voraussicht nach sehr selten wieder sehen. Zu Thanksgiving vielleicht oder zu Weihnachten. Und das war doch auch besser so.
„Was ist los?“ Der Gottesdienst war vorbei und Annabell riss mich aus meinen Gedanken. „Du siehst traurig aus“, fragte sie besorgt.
Sah ich traurig aus? Ich war nicht traurig. Ich würde mein gewohntes Leben wieder aufnehmen und für meine Partnerschaft arbeiten.
„Ach, es ist nichts. Ich glaube, so eine Predigt macht einfach hungrig. Wollen wir was essen gehen? Im Diner? Ich lade Dich ein.“
Wenigstens ein unerkanntes kleines Geldopfer als Wiedergutmachung. Vielleicht würde ich Sandy, die Kellnerin vom Freitag, wieder sehen. Ein wenig Ablenkung würde mir gut tun.
„Ja, gern. Danke. Ich verabschiede mich nur schnell vom Reverend.“
Sie lief nach vorn. Ich ging mit Rutherford hinaus, der weiter über die liberale Strafrechtsgesetzgebung lamentierte.
30. Kapitel
Im Waterfront Diner war es heute belebter als am Freitagvormittag. Aber wir hatten Glück. Als wir kamen, wurde ein Tisch auf der Veranda frei, so dass wir wieder auf den Hafen hinausblicken konnten.
Ich hatte Glück in doppelter Hinsicht, denn Sandy hatte Dienst. Sie begrüßte mich freudig, bedachte Annabell jedoch nur mit einem kurzen Nicken.
„Hallo Sandy, schön, Dich wieder zu treffen.“ Ich schenkte ihr mein strahlendstes Lächeln und formte die Worte mit samtweicher Stimme. Sie wirkten zutiefst aufrichtig und in gewissem Sinne waren sie das ja auch. „Ich nehme an, Du kennst meine kleine Schwester, Annabell?“
Sandys Miene hellte sich bei der Erkenntnis, dass Annabell nicht meine Freundin war, schlagartig auf.
„Aber natürlich. Wie geht’s Dir, Annabell? Ihr seid Geschwister?“
„Ja“, entgegnete Annabell, „als wir uns am Freitag hier begegnet sind, wussten Ethan und ich das auch noch nicht.“ Schwang da Bedauern in ihrer Stimme mit? „Ist ne lange Geschichte.“
„Vielleicht kann Dein Bruder sie mir ja mal erzählen.“
Die Aufforderung in dieser Feststellung war unverkennbar.
„Ja, vielleicht“, sagte Annabell und beobachtete mich aufmerksam. Sie klang bedrückt.
„Vielleicht schon heute Abend?“ bot ich an. „Falls Du noch nichts vorhast, selbstverständlich.“
Vielleicht konnte Sandy mich von Annabell ablenken.
„Ab 16.00 Uhr hab ich frei.“ Sandy gab sich noch nicht einmal Mühe, Gleichmütigkeit vorzutäuschen.
Wenn alles planmäßig verlief, würde sie mir helfen, gewisse Spannungen abzubauen. Das würde es erheblich leichter machen, mit Annabell unter einem Dach zu wohnen.
„Dann ruf ich Dich an. Ich hab ja die Nummer.“
Ich hatte Annabell weiterhin beobachtet, aber ihr Gesicht verriet mit keiner Regung, ob ihr diese Verabredung recht war.
Der Gottesdienst schien uns beide hungrig gemacht zu haben. Wir bestellten vorab eine Portion Nachos mit Chili con Carne und Käse überbacken, dazu Guacamole-Dip. Danach Burger mit Hähnchenbrust in scharfer Panade mit Süßkartoffel-Wedges und Krautsalat. Annabell schien immun gegen Fast Food zu sein, verriet mir aber auf eine entsprechende Bemerkung hin, dass sie sich grundsätzlich maßvoll, fettreduziert und obst- und gemüsereich ernährte und sich nur ausnahmsweise Fast Food gönnte. Seit meinem Auftauchen schien die Schlemmerei zur Regel geworden zu sein.
„Es fällt Dir leicht, Mädchen um den Finger zu wickeln, oder?“, fragte Annabell, als Sandy außer Hörweite war.
„Kann schon sein“, räumte ich ein und ging – gleichsam aus
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