Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Stärkeren?“
„Ja, so ähnlich habe ich das gemeint. Nicht ganz so extrem vielleicht.“
„Aber was, wenn ich, ohne an Gott zu glauben, schlicht keine Freude daran finde, zu morden, es mir keinen Lust- oder Glücksgewinn bringt? Nehmen wir an, dass mich die Vernunft dazu bringt, mich an bestimmte Regeln zu halten, weil ich mich selbst durch allgemeine Regeln schützen möchte. Oder nehmen wir an, dass ich es unmenschlich finde.“
Sie legte den Kopf schief und dachte nach. „Ich könnte argumentieren, dass Du es unmenschlich findest, weil es Gott gibt und er Dir ein Gewissen, eine Ahnung davon mitgegeben ist, was richtig und falsch ist und Du deshalb auch die allgemeinen Grundregeln anerkennst.“
Selbst wenn es das objektiv Gute und Richtige in Gott gab, blieb immer noch das Problem, es zu erkennen. Die Quelle der Erkenntnis waren dann lediglich nicht allein der menschliche Intellekt, sondern möglicherweise darüber hinaus geoffenbarte Wahrheit.
„Vielleicht solltest Du überlegen, ob Du nicht doch Anwältin werden möchtest.“
Unser Gespräch wurde an dieser Stelle unterbrochen, weil Sandy uns die Nachos brachte. Annabell entging nicht, dass sie mir schöne Augen machte.
„Wenn Ihr beide heute Abend etwas unternehmt, werde ich vielleicht auch mal mit Jason telefonieren. Er hat per Kurznachricht gefragt, ob wir uns heute sehen.“
Jason. Mit dem hatte ich ja auch noch ein Hühnchen zu rupfen. Und eine SMS! Er traute sich wohl nicht, anzurufen, oder wollte Gleichgültigkeit demonstrieren.
„Und? Würdest Du ihn gern sehen? Ich hätte nichts dagegen“, log ich.
Ich hatte sehr wohl etwas dagegen. Dieser kleine Bastard hatte sie in Gefahr gebracht. Er sollte die Finger von ihr lassen. Aber auf der anderen Seite musste ich mich mit dem Gedanken anfreunden, dass sie über kurz oder lang ohnehin einen Freund haben würde. Und da konnte sie es vermutlich schlechter antreffen, als mit Jason.
„Das freut mich.“ Sie klang enttäuscht.
„Darf er zu uns kommen? Auch wenn Du nicht da bist, meine ich?“
Zu ‚uns’. Wie gut sich das anhörte.
Es war mir ganz und gar nicht recht, wenn sie mit Jason allein zu Hause war. Aber ich war Realist. Wenn sie es darauf anlegte, würde sie ihn woanders alleine treffen. Wenn nicht bei uns zu Hause, dann doch bei ihm oder sonst wo. Es hatte keinen Zweck, es zu verbieten, wenn ich das Verbot nicht durchsetzen konnte. Besser, sie traf ihn da, wo ich jederzeit auftauchen konnte.
„Ich gehe davon aus, dass Jason ein anständiger junger Mann ist, und Du bist eine verantwortungsvolle junge Frau. Wenn Du ihn einladen möchtest, tu das nur.“
Die Antwort gefiel ihr nicht. Sie sah aus, als hätte sie ein Verbot besser zu schätzen gewusst.
Sie war so wunderschön. Jason hatte sie nicht verdient. Es war zum aus der Haut fahren!
Während wir unsere Burger aßen, kam ein älterer Mann auf die Veranda. Er trug ein zerlumptes Holzfällerhemd, eine zerschlissene Cordhose und seinen linken Arm in einer Schlinge. Er ging von Tisch zu Tisch und bat, eine Wollmütze in der Hand, um ein Almosen:
„Haben Sie ein bisschen Kleingeld für mich? Einen Dollar oder zwei, die sie erübrigen können?“
Das kam mir gerade Recht. Es war eine Sache, wenn diese Penner sich auf der Straße hinsetzten und andere um ihr ehrlich verdientes Geld brachten. Aber hier wagte es doch dieser Kerl, uns beim Essen zu stören.
„Nein bedaure. Haben Sie vielleicht ein paar Dollar für mich?“ fragte ich mit unverhohlener Entrüstung.
Er sollte nur nicht glauben, dass er die Situation ausnutzen konnte, weil ich vor dem Mädchen nicht als hartherzig dastehen wollte.
„Und wenn Sie nicht gleich verschwinden, werde ich dafür sorgen, dass Sie hier entfernt werden.“
Ich sah mich um, aber Sandy war nicht in der Nähe. Ich wollte schon aufstehen, sie zu holen, da griff Annabell in ihre Tasche, zog ihr Portemonnaie hervor und gab dem Mann einen Fünf-Dollar-Schein.
„Bitte sehr, Sir. Nehmen Sie“, sagte sie freundlich.
„Vielen Dank, Miss. Gott schütze Sie.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an und ging zu einem anderen Tisch.
„Wie kannst Du dieses Gesindel auch noch unterstützen?“
Ich konnte es nicht fassen.
„Das sind doch ganz abgebrühte Typen. Tun so, als ginge es ihnen ach so schlecht und dann nehmen sie Dich aus.“
„Ich glaube nicht, dass er nur so getan hat. Ich glaube, das war wirklich ein armer alter Mann. Hast Du seine Sachen gesehen. Das sind wahrscheinlich seine
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