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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Neblin
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mich mit Fragen, die ich knapp und mit kaum verhohlener Missbilligung beantwortete. Glücklicherweise hatte sich das gestrige Ereignis noch nicht allgemein herumgesprochen.
    Bevor wir uns in die Bank setzten, machte Annabell einen Knicks in Richtung des Altars und bekreuzigte sich. Ich folgte ihr ohne derlei Ehrbezeugungen. Kurz drauf erschien Rutherford und gesellte sich zu uns. Er hatte von dem Überfall gehört und wollte von uns noch einmal alles im Detail hören. Schwachkopf! Musste er Annabell jetzt daran erinnern? Um ihr die Antworten zu ersparen, gab ich das Geschehen in knapper Form wieder.
    „Ich habe schon gehört, wie Du den kleinen Punk in die Flucht geschlagen hast – im wahrsten Sinne des Wortes. Bravo, mein Junge!“ Er klopfte mir anerkennend auf die Schulter. „Wir werden ihn schon kriegen. Verlass Dich drauf. Das Ärgerliche ist nur, dass wir ihn nicht so lange einbuchten können, wie ich mir das wünschen würde. Er hat dank Deines mutigen Eingreifens ja nicht viel ausrichten können und es wird schwierig, aus dem Versuch eine anständige Haft herauszuholen. Verdammt laxe Gesetze, die wir haben. Nutzen nur den Verbrechern. Kommen alle viel zu leicht davon, diese Hurensöhne – Verzeihung, Annabell.“
    „Schon gut, Onkel Charlton.“
    Seine Stammtischparolen waren bemerkenswert für einen Juristen. Die prozessualen Vorschriften hatten schließlich im Grundsatz einen höheren Zweck. Sie sollten die Freiheit aller Bürger vor all zu leichten staatlichen Eingriffen schützen.
    „Am besten, man führt verstärkt körperliche Strafen ein“, übertrieb ich seine mittelalterlichen Vorschläge. „Hand ab für Diebstahl, Stockschläge für Kaugummi auf der Straße. So was in der Art.“
    „Genau mein Junge. Ich sehe, wir verstehen uns. Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet. Den beiden Hurensöhnen würde ich allerdings was ganz anderes abschneiden. Das wäre eine angemessene Vergeltung …“.
    Wir konnten die Diskussion glücklicherweise nicht fortsetzen, denn der Reverend kam herein. Als McCandle uns sah, wunk er uns kurz zu. Eine wirklich familiäre Atmosphäre, das musste man sagen.
    McCandle hatte natürlich auch schon von unserem kleinen Abenteuer gehört, zumindest ließ die Predigt das vermuten:
    „Wir hören ‚Liebe den Herrn Deinen Gott und Deinen Nächsten wie Dich selbst‘. Andere sagen ‚Der Mensch darf nicht bloßes Mittel unseres Handelns sein, er muss immer auch Zweck sein‘. Wieder andere meditieren ‚Om mani padme hum‘ und meinen Karuna und Metta, Mitgefühl und liebende Güte zu allen Lebewesen. Die Glaubens- oder Gedankensysteme sind nicht dieselben, keineswegs. Aber sehen wir nicht das Gemeinsame, das viele verschiedene Religionen und Philosophien uns zurufen?
    Was heißt nun unser Wort?“
    Er sprach über die im Verlauf befindliche Schöpfung des Menschen zur Gottesebenbildlichkeit, die Liebe Gottes und die Liebe zu Gott, zum Ich, zu den Mitmenschen und anderen Mitgeschöpfen, über die Auswirkungen der bösen Tat auf Opfer und Täter und über den freien Willen im Kontext des moralischen Übels. [6] Dabei hatte ich von Zeit zu Zeit das Gefühl, dass er unmittelbar zu mir sprach.
    Der Reverend schloss mit den Worten:
    „So kommen wir auf das Wort ‚Liebe den Herrn Deinen Gott‘ zurück: Lassen wir Gottes Gnade an uns wirken und bitten: Herr, führe uns auf dem rechten Wege, auf dass wir wandeln in Deiner Wahrheit, und sprich das Wort, das unsere Seele gesund macht! Denn der Herr ist es, der die Hilfe leistet, die der Mensch so nötig braucht.“
    Und während er so den gleichen Sermon beendete, den er mir schon bei unserer ersten Begegnung hatte zuteil werden lassen, fühlte ich mich von ihm abermals so merkwürdig beobachtet.
    Des ‚Herrn’ Gnade? Wie sehr sollte sich der Mensch erniedrigen, dass er meinte, einen Herrn nötig zu haben? Der Mensch war kein unmündiges Kind. Er hatte sich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit seit Langem befreit. Wieso sollte er sich freiwillig wieder in Gefangenschaft begeben?
    Annabell hatte sich die Predigt mit Interesse angehört. Ich hatte sie beobachtet. Sie hatte sich nicht umgesehen, vor sich hingeträumt oder mit dem Banknachbarn getuschelt wie so viele andere. Sie schien dieses Gerede wirklich ernst zu nehmen.
    Zugegeben: Einiges, was McCandle gesagt hatte, hatte mich direkt angesprochen. Ja, ich hatte darüber nachgedacht, meine Stellung zu missbrauchen und dieses Mädchen rücksichtslos

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