Annas Erbe
zu ignorieren. Neben den Aufzügen zählte eine Tafel mindestens ein Dutzend Firmen auf. Thann fuhr in den achten Stock.
Der Geschäftsführer von A & F war ein voluminöser Mann und trug einen zweireihigen Anzug. Thann wunderte sich, wie gelassen dieser auf den Leichenfund auf seinem Betriebsgelände reagierte. Thann ließ sich aufklären, dass das Image der Deponie keine Rolle spielte. A & F Entsorgungsdienst hatte in der Stadt keine Konkurrenz, und die bald volle Deponie werde in naher Zukunft ohnehin durch eine weit modernere Verbrennungsanlage ersetzt, die A & F zu bauen gedenke. Das Gespräch brachte Thann nichts außer der Gewissheit, dass mit Dreck viel Geld zu verdienen war. Und die starke Vermutung, dass die Leiche wie normaler Hausmüll auf die Deponie gekommen war, ohne dass die Müllarbeiter beim Leeren der Tonnen die makabre Fracht entdeckt hatten. Als er sich von dem Geschäftsführer verabschiedete, hatte er das Gefühl, zu viel Zeit verschwendet zu haben.
Im Foyer fiel Thanns Blick noch einmal auf das Bild, das an der Längsseite hing und die Hälfte der Wand einnahm. Es war mit wildem, grobem Pinselstrich gemalt. Im Vordergrund leuchtete eine gelbe Fläche wie ein blühendes Rapsfeld. Daneben stand ein Haus, mit nur wenigen schiefen Strichen angedeutet.
Drei Kinder spielten vor dem Haus. Eins lief auf das Rapsfeld zu, ein anderes krabbelte hinterher. Das dritte blickte geradewegs aus dem Bild den Betrachter an. Über allem schwebten Vögel wie die Möwen über der Deponie, schwarz und unheimlich.
Wieder fielen Thann die toten Augen der Leiche ein und die zerschnittenen Wangen. Als er auf die Straße trat, spürte er ein nervöses Kribbeln von der Magengegend her aufsteigen. Er nahm die Straßenbahn zurück zum Präsidium.
Ein erster Erfolg – Miller hatte gute Nachrichten. Viele Anrufer wollten den Toten erkannt haben. Fast jede Zeitung hatte die Zeichnung gebracht. Der Mordfall Deponie war zum Gesprächsthema geworden. Miller war ganz Feuer und Flamme. Im K1 nannte man ihn Benjamin, da er mit vierundzwanzig der Jüngste war, erst seit wenigen Wochen im Kommissariat.
Einige Anrufer waren in der Tat ernst zu nehmen. Einer von ihnen war ein Sozialarbeiter, der in der Zeichnung einen kürzlich entlassenen Strafgefangenen zu erkennen glaubte. Ein Bewährungshelfer. Wenn er recht hatte, war seine Hilfe nicht länger nötig. Den Tod gab es nicht auf Bewährung.
Für seinen ersten Mordfall hätte sich Thann lieber ein prominenteres Opfer gewünscht als einen unbekannten Haftentlassenen. Je spektakulärer der Fall, desto größer die Verdienste des erfolgreichen Ermittlers. Andererseits konnte er froh sein, wenn der Hinweis stimmte und er wenigstens schon mal den Namen des Opfers hatte. Drei Tage – die Zeit drängte. Da Schneider und Dalla zur Deponie gefahren waren, um die Befragung der Nachbarn fortzusetzen, ließ sich Thann von der Verwaltung eins der klapprigen Zivilfahrzeuge zuteilen. Er orgelte eine ganze Minute, bis die Karre ansprang. Dann raste er los.
9.
Der Bewährungshelfer war sicher, den Toten identifizieren zu können.
»Ich war überzeugt, er würde es schaffen. Ich habe noch keinen erlebt, der nach einem Vierteljahrhundert Strafvollzug so einen guten Eindruck gemacht hat. Herr Eich war hochintelligent, er wusste, was er wollte, und er hatte Freunde, die ihm halfen. Am Montag hätte er seine neue Arbeit antreten sollen. Und jetzt ist er tot. Ich kann es noch gar nicht glauben.«
»Wissen Sie, ob er Feinde hatte?«
»Nein. Herr Eich war eher ein verschlossener Typ. Über private Dinge haben wir wenig gesprochen. Vielleicht kann Ihnen Herr Beckmann mehr sagen.«
»Beckmann?«
»Ja, sein Freund, der ihm auch die Arbeit an der Universität verschafft hat. Soviel ich weiß, hatte Herr Beckmann den besten Kontakt zu Herrn Eich.«
»Ich hatte noch keine Zeit, mir die Unterlagen zu besorgen. Weshalb saß Eich hinter Gittern?«
»Wegen Mordes.« Der Sozialarbeiter blätterte in seinen Papieren. »1969 wurde er zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt wegen Mordes an seiner damaligen Freundin. Sie werden sich nicht erinnern, aber der Fall schlug damals hohe Wellen. Das war die Zeit der ersten Hausbesetzungen, und ein Mord in diesem Milieu war ein gefundenes Fressen für die Presse und für die Hardliner in der Politik.«
Und ob er sich erinnerte. Der Friedrichstraßenmord schien ihn zu verfolgen. Das Hochhaus, die Schnitte im Gesicht beider Opfer und Bollmann:
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