Annas Erbe
hätte, dann Günther.« Der Professor sah auf die Uhr. »Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich habe ein Hauptseminar. Wenn Sie wollen, stehe ich Ihnen ab 16 Uhr zur Verfügung. Falls Sie noch Fragen haben.«
Thann verabschiedete sich.
10.
Die Anwaltskanzlei hatte ihren Sitz in einem der wenigen prächtigen Gründerzeithäuser, die die Sanierungswellen der Nachkriegszeit in diesem Teil der Innenstadt überlebt hatten. Dahinter überragte das Hochhaus an der Friedrichstraße die Häuserfront.
Drei Stufen führten zum säulengeschmückten Eingangsportal, ein zwischen Messingschienen gespannter roter Teppich zum Aufzug. Der Metallkäfig war so alt wie das Haus. Ächzend und bedächtig langsam brachte er Thann zur Kanzlei in den zweiten Stock.
Die Anwaltsgehilfin öffnete ihm. Für einen Moment hielt Thann den Atem an. Braune Augen, braunes Haar, volle Lippen. Ein unbekümmertes Lächeln. Unwillkürlich verglich er sie mit Corinna. Seine Ex verlor.
Ihre Stimme, weich wie Samt: »Sie sind der Kommissar von der Polizei? Herr Meier hat leider noch Besuch. Es kann nicht mehr lange dauern. Wenn Sie bitte hier solange Platz nehmen würden?«
Sie wies auf ein altes Ledersofa und verschwand in einem Nebenraum.
Thann sah sich in der Diele der Kanzlei um. Alles hier war alt und edel. An einer Wand standen Schränke bis zur Decke, an einer anderen eine Kommode, darauf ein Kerzenleuchter, wie in Großmutters Wohnzimmer. An den freien Wandflächen hingen Stiche mit Stadtansichten aus verschiedenen Jahrhunderten. Die Rheinfront der Stadt, das Schloss, das Rathaus mit dem Reiterstandbild.
Die Anwaltsgehilfin kam zurück und holte etwas aus einem der hohen Aktenschränke. Ihr Kostüm sah unauffällig aus und teuer. Der kurze Rock zeigte Bein, als sie sich nach oben streckte. Thann brachte seinen Blick nicht weg von dieser Frau. Ihr Gang verriet Selbstbewusstsein. Bevor sie verschwand, warf sie ihm noch ein Lächeln zu. Die Tür ihres Büros blieb offen, doch von seinem Platz aus konnte Thann sie nicht sehen.
Nach etwa drei Minuten vernahm Thann die Stimmen zweier Männer, die sich verabschiedeten. Dann traten sie aus der Tür, blieben in der Diele stehen und schüttelten Hände. Der Anwalt hielt seinem Besucher die Eingangstür auf, schloss sie und wandte sich schließlich dem Polizeibeamten zu.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Meier ist mein Name. Der Tote war mein Mandant.«
Sie betraten das Vorzimmer.
»Eva, hast du unserem Gast bereits Kaffee angeboten? Nein? Blond und süß, Herr Kommissar?«
Schon der dritte Alt-68er an diesem Tag. Diesmal von der Sorte lässig-leger. Sie betraten das Büro des Juristen. Auch hier schien jedes Möbelstück eine Antiquität zu sein. Der Anwalt trug Jeans und eine knittrige Leinenjacke. Seine Aufmachung passte in diese Räume wie die Faust aufs Auge.
Auch Meier hatte keine Ahnung, wer seinen Mandanten umgebracht haben könnte und warum. Seit etwa zehn Jahren vertrat er Günther Eich. Einmal jährlich hatte er sich um dessen Begnadigung bemüht, erst jetzt mit Erfolg. Zuletzt hatte er Eich vorgestern gesehen, am Tag vor dem Mord. Am Nachmittag sei Eich ohne Voranmeldung ins Büro gekommen, um zu fragen, was er tun könnte, wenn es ihm gelänge, seine Unschuld zu beweisen.
»Der Friedrichstraßenmord hat ihn also noch sehr beschäftigt?«, fragte Thann.
»Ja, sehr. Er machte Andeutungen, er habe etwas in der Hand. Er wollte den Mann zur Rede stellen, von dem er annahm, er sei der wahre Mörder seiner Freundin. Wer das sei und was er an Beweismitteln oder Verdachtsmomenten in der Hand habe, das wollte mir Herr Eich jedoch nicht verraten. Leider, wie ich heute sagen muss.«
»Glauben Sie an Eichs Unschuld?«
»Mein Vater hat ihn im damaligen Prozess verteidigt. Ich stand damals kurz vor dem Examen und half meinem Vater in den Semesterferien. Ich habe erst vorgestern nach Eichs Besuch in den Unterlagen nachgesehen, soweit sie hier noch vorhanden sind. Es war ein reiner Indizienprozess. Ah, da kommt der Kaffee.«
Wieder lenkte die reizvolle Gehilfin Thanns Gedanken ab. Eva. Er fand, dass der Name zu ihr passte. Sie stellte die Tassen ab. Keine Ringe an ihren Fingern.
Meier gab Thann Kopien von Akten und Zeitungsausschnitten. »Vielleicht hilft Ihnen das weiter. Wie gesagt, es waren nur Indizien, aber in ihrer Gesamtheit erdrückende Indizien. Aus den Unterlagen konnte ich keinerlei Hinweise auf einen anderen Täter erkennen.«
Im Schriftwechsel der Juristen
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