Annas Erbe
den sie gegen ihren Bruder hegte, müsse sie auf den herzkranken Kurz Rücksicht nehmen.
Thann verstand.
47.
Noch nie zuvor hatte Thann mit einem Minister an einem Tisch gesessen. Axel Lemke war etwa so alt wie Bollmann und etwa so groß. Weiter schienen die Gemeinsamkeiten nicht zu gehen. Lemke hatte braunes Haar mit grauen Schläfen und einen mit grauen Fäden durchsetzten, sorgfältig zurechtgestutzten Seemannsbart auf Kinn und Wangen. Seine Züge waren hager, und auf seiner Nase leuchteten feuerrote Äderchen, als würden sie jeden Moment platzen.
Als der Minister zu sprechen begann, begriff Thann, warum dieser Mann als Politiker Erfolg hatte. Es war seine gewählte Sprache und es war seine Stimme, die laut vernehmbar den gesamten Raum ausfüllte. Dieser Mann sprach nicht, sondern ließ seine Stimme tönen. Er sagte die Worte nicht, sondern setzte sie ein.
»An der Tatsache, dass ich einen Kabinettstermin nicht wahrgenommen habe, um zu Ihnen zu kommen, können Sie vielleicht ersehen, wie ernst ich den Vorfall nehme. Ich hoffe, Sie nehmen die Sache genauso ernst. Wenn der Vorfall von gestern Abend durch eine Indiskretion an die Presse dringen sollte, wird derjenige, der seinen Mund nicht halten konnte, den Unmut seiner Kollegen auf sich ziehen. Man würde ihn schwerlich länger im Amt halten können. Ich hoffe, Diskretion ist Konsens, und bitte Sie, in Ihren jeweiligen Bereichen genauso zu verfahren. Also: Halten Sie den Kreis derer, die von dem Vorfall Kenntnis haben, so klein wie irgend möglich und schärfen Sie jedem ein, wie wichtig Diskretion für das Ansehen der Polizei und damit für die Sicherheit im Lande ist. Ich schlage nun vor, da wir uns nicht alle kennen, dass sich reihum jeder kurz vorstellt.« Er zeigte auf seine Brust. »Axel Lemke, Innenminister.«
Neben dem Minister waren sein persönlicher Referent, ein beflissen scheinender Typ namens Brunn, sowie Fröhlich, Tommaso, Miller, Thann und Fendrich im Raum. Die Anwesenheit Fendrichs war ein Widerspruch zur bisherigen Rede des Ministers, fand Thann. Dieser Mann gehörte nicht in diesen Kreis.
»Ich habe mit dem neuen Polizeipräsidenten die Lage telefonisch erörtert. Er ist entsetzt über die Vorfälle. Er bittet mich, Ihnen mitzuteilen, dass Kriminalhauptkommissar Fendrich die interne Untersuchung leiten soll. Er erwartet, jederzeit auf dem Laufenden gehalten zu werden, und erwägt, gegebenenfalls seinen Urlaub in Südfrankreich zu unterbrechen. Des Weiteren bitte ich Sie, Herr Fendrich, meinen Referenten, Herrn Brunn, über sämtliche Schritte zu informieren. Herr Fendrich, gibt es schon erste Vorschläge, wie wir verfahren sollten?«
Fendrichs Antwort bewies, dass er sich schon sehr früh an die Arbeit gemacht hatte. Der Schleimer hatte seine Chance erkannt. In Thanns Magen rumorte es, während Streber Fendrich beim Innenminister Eindruck schindete.
»Ich habe bereits mit einigen der entgleisten Kollegen gesprochen. Ich denke, jeder, der von sich aus den Polizeidienst quittieren möchte, soll dies tun können. Eine Kollegin hat bereits den Wunsch danach geäußert. Wir sollten in jedem Einzelfall eine Art Legende schaffen, die das Ausscheiden begründet, ohne dass der gestrige Vorfall zur Sprache kommt. Einige Kollegen zeigen sich leider uneinsichtig, als sei das, was sie taten, ein Freizeitvergnügen, das den Arbeitgeber nichts anginge. So geht das natürlich nicht, aber wir sollten in jedem Fall eine einvernehmliche Lösung anstreben und dabei berücksichtigen, dass viele dieser Kollegen jahrelang ihren Dienst ohne Beanstandung versehen haben.«
»Was ist, wenn das, was wir gestern entdecken mussten, nur die Spitze eines Eisbergs ist? Sollten wir nicht generell alle Mitarbeiter des Präsidiums auf ungenehmigte Nebentätigkeiten hin überprüfen?« Der Vorschlag kam von Tommaso.
»Können Sie sich vorstellen, dass weitere Ihrer Kollegen in solche Dinge verwickelt sind?«, fragte Lemke und schaute in die Runde.
Fendrich verneinte sofort. Fröhlich blieb stumm.
»Seit gestern kann ich mir vieles vorstellen«, sagte Thann. Ein böser Blick von Fendrich. Ein erstaunter von Lemke.
48.
Udo Korfmacher setzte sein freches Grinsen auf, als er in ein Büro geführt wurde, das als Vernehmungsraum diente. Es gab einen Tisch mit zwei Stühlen in der Mitte des Raums und einen zweiten Tisch, an dem Miller saß, als Zeuge und Protokollant. Seit gestern hatte Thann sich den Benjamin zum Partner erkoren.
»Ihr Trottel!«,
Weitere Kostenlose Bücher