Annas Erbe
ich war, als ich heute Morgen bei der Post war. Da halte ich ein Päckchen von Günther in der Hand, abgeschickt am Mittwoch vor einer Woche. Also unmittelbar vor seinem Tod.«
Acht Tage war das Familienalbum, hinter dem mehrere Menschen hergejagt und für das einige Menschen auch vor Verbrechen nicht zurückgeschreckt waren, aus der Welt verschwunden. Die Post machte es möglich. Am liebsten wäre Thann gleich losgefahren und bei dem Professor eingebrochen, bevor es ein anderer tat. Selten hatte Thann eine Verabredung in so große Anspannung versetzt wie diese mit Beckmann.
Noch drei Stunden, bis er das Album sah.
Der nächste Anruf stellte sich als nicht weniger aufregend heraus. Thann war gerade im Begriff gewesen, zur Kantine aufzubrechen.
Er meldete sich und wollte bereits wieder auflegen, weil er nur ein Rauschen hörte. Da hörte er eine Stimme, die ihm bekannt vorkam und zugleich völlig fremd. Es klang wie die Stimme eines Betrunkenen oder Sprachgestörten und doch ganz anders.
»Hil-fe!«
»Wer spricht da?«
»Hilf mir!«
»Wer spricht? Wo bist du?«
Es war ein leichtes Hüsteln und dann eine Männerstimme. Mehrere undeutliche Worte. Thann meinte, einen Namen herauszuhören. »Miller, bist du's?«
»Ja.«
Dann wieder das Hüsteln. Miller sprach weiter. Er schien zu wiederholen, was er vorher gesagt hatte. Allmählich verstand Thann mehr.
»Oberrather Landstraße ... Stadtgrenze ... Schweine ... Vorsicht!«
Thann packte seinen Anorak und rannte los. Den Hunger hatte er vergessen.
50.
Es war eine Gegend südlich der Deponie. Ein noch nicht vollständig bebautes Gewerbegebiet auf der anderen Seite der Autobahn. Thann raste, was sein alter Golf hergab, und überquerte mehrere Kreuzungen bei Rot. Zusätzlich zu seiner Dienstpistole hatte er mehrere Magazine eingesteckt. Wenn es nicht der Hilferuf seines Partners war, dann war es eine Falle. Als Thann den Autobahnzubringer erreichte, ging es nur noch geradeaus. Er beschleunigte weiter. Zweimal überholte er einen Lastwagen. Als er zum dritten Überholmanöver ansetzte, bemerkte er erst im letzten Moment ein entgegenkommendes Auto und musste auf die Bremse steigen. Er wurde etwas vorsichtiger.
Oberrather Straße, dann Oberrather Landstraße. Die letzten Häuser vor der Autobahnunterführung. Dann das Gewerbegebiet: Hallen aus Leichtmetall, ein Markt für Billigmöbel, ein Wohnwagenhändler. Thann fuhr langsamer und hielt nach einer Telefonzelle Ausschau. Nichts, stattdessen Baustellen, Brachflächen, eine Bachüberquerung, ein kleines Wäldchen. Das Ortsschild hatte Thann längst hinter sich gelassen. Er begann zu zweifeln, ob er den Anrufer richtig verstanden hatte. Hinter dem Wäldchen gab es einige Bauernhöfe. Dort wollte er wenden.
Plötzlich sah er die Telefonzelle. Direkt an der Straße, 200 Meter vom nächsten Bauernhof entfernt. Neben der Zelle kauerte ein dunkles Etwas. Es war Miller.
Sie hatten ihn übel zugerichtet. Sein Kopf war blutüberströmt. Er hielt sich den Leib, stöhnte und hechelte, kurz und schnell. Als Thann sich über ihn beugte, sah Miller hoch und sagte: »Holzshampoo«. Dabei bluteten seine aufgeplatzten Lippen.
Eins seiner Augen war blutunterlaufen und von einem roten Bluterguss umringt. Das gleiche Monokel, das auch der Kopf des toten Eich getragen hatte. Das Zeichen eines schweren Schlages gegen den Schädel. Gefoltert, bevor er starb.
Thann half dem Kollegen ins Auto. Von selbst konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. »Holzshampoo«, so nannten es rechtsradikale Jugendbanden, wenn sie ihren Gegnern den Baseballschläger über den Kopf zogen. Auch manche Ausbilder der Bereitschaftspolizei gebrauchten den Ausdruck, wenn es darum ging, wie man eine Demonstration auflöste.
»Holzshampoo«, sagte Miller auf dem Weg ins Krankenhaus noch einmal. Nur mühsam brachte er die Worte hervor. »Dalla und Schneider ... Glauben, ich habe dir von Caroline erzählt ... Schuld an Razzia ... Pass auf ... Wollen dich auch ...«
Notfalls wird er kaltgemacht.
»Die beiden haben dich so zugerichtet?«
Miller schien seine Frage nicht gehört zu haben. Plötzlich erbrach er sich auf seine Jacke. Er hustete. Es schien ihm große Schmerzen zu bereiten.
Thann öffnete das Fenster ein wenig und sah zu seinem Beifahrer hinüber. Miller war zusammengesackt. Offensichtlich hatte er das Bewusstsein verloren. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
Thann umklammerte das Lenkrad. Er fuhr noch schneller. Dalla und
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