Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Ruf. Aber dieser Hotelzulieferer hatte sie bei der Provision beschissen.
Das Ganze war eine so niederschmetternde Erfahrung, dass Asha zunächst skeptisch blieb, als eine andere korrupte Machtfigur mit dem Versprechen auf sie zukam, diesmal würden ihre Bemühungen mit einer Gewinnbeteiligung belohnt.
Und just, wenn du denkst: endlich mehr Leben, musst du bald sterben.
An dieser pessimistischen Einstellung hielt sie fest bis zu dem Tag, an dem sie tatsächlich mehr Leben sah, und das war der Tag, an dem das Regierungsgeld auf ihrem Konto einging.
Auf die Idee, die die Zukunft ihrer Familie sichern sollte, war sie nicht selbst gekommen. Sie stammte von Bhimrao Gaikwad, einem Beamten im Bildungsministerium des Bundesstaates Maharashtra. Er sollte eine ehrgeizige und mit ausländischen Mitteln geförderte Maßnahme der Zentralregierung namens Sarva Shiksha Abhiyan in Mumbai umsetzen. Das Projekt zielte auf Grundschulbildung für alle und sollte über dreihundert Millionen Kinderarbeiter, Mädchen und behinderte Kinder zum ersten Mal in Klassenzimmer bringen.
In Zeitungsinterviews erzählte Gaikwad gern, wie emsig er nach unbeschulten Kindern suche und wie sehr er hoffe, ihnen die Art Bildung zu bieten, mit der sie aus der Armut aufsteigen konnten. Nicht ganz so öffentlich bekannt war sein Plan, die staatlichen Gelder in die eigene Tasche umzulenken. Durch Zusammenarbeit mit Behörden für Stadtentwicklung in ganz Mumbai kam er an Strohleute, die berechtigt waren, für den vermeintlichen Unterricht von Kindern staatliche Gelder zu beziehen. Die Fördertöpfe sollten zwischen ihm und seinen Komplizen aufgeteilt werden.
Im Nachhinein wäre Asha lieber gewesen, sie hätte Gaikwads Aufmerksamkeit mit ihrer Intelligenz erregt, sogar mit ihrem Aussehen. Aber sein Interesse hatte einen banaleren Grund: den Umstand, dass Asha einem gemeinnützigen Verein vorsaß. Den Stempel »gemeinnützig« hatte ihr 2003 ein anderer Mann für ein anderes Projekt verschafft, er hatte ihr einen Auftrag im Rahmen der Stadtsanierung versprochen, der aber nie zustandegekommen war.
»Korrekt eingetragen?«, wollte Gaikward nur wissen.
»Ja, korrekt.« Und damit war Asha auserwählt, ihm Beihilfe zum Betrug am bedeutendsten Regierungsprogramm für bessere Lebensbedingungen von Kindern zu leisten.
Regierungsbeamte stellten Urkunden aus, laut denen Ashas gemeinnütziger Verein bereits seit etlichen Jahren vierundzwanzig Vorschulen für arme Kinder betrieb. Für die fiktive Trägerschaft bekam sie von der Regierung 470 000 Rupien, also über 7000 Euro. Im selben Jahr sollte noch mehr Geld für neun Brückenschulen für ehemalige Kinderarbeiter fließen, die sie angeblich auch führte. Den Geldregen sollte Asha in Form von Schecks an Leute auf einer von Gaikwad zusammengestellten langen Liste weiterverteilen – theoretisch allesamt Lehrer und Hilfslehrer an ihren Schulen. Wer die Leute waren, hatte sie nichts anzugehen. Alles, was sie anging, war, Bhimrao Gaikwad sofort zwanzigtausend Rupien und dem Mann bei der Stadtentwicklung, der die Verträge mit aufgesetzt hatte, fünftausend in bar auszuhändigen.
Wegen all der Abfindungen würde Asha im ersten Jahr noch nicht das große Geld verdienen. Aber Gaikwad hatte ihr versichert, dass in den folgenden Jahren mehr bei ihr ankommen würde.
Es gab einen kleinen Haken, als die erste Tranche Regierungsgeld – 429 000 Rupien, fast 6500 Euro – auf dem Konto ihres eigentlich dahinsiechenden eigennützigen Vereins einging. Die Schecks, die Asha auszustellen hatte, brauchten zwei Zeichnungsberechtigte, und die Nachbarin, die Asha schon vor langer Zeit zur Vereinssekretärin ernannt hatte, war hoffnungslos unbrauchbar. »Sind wir bald reich?«, fragte sie zuerst und dann, weinerlich: »Und wenn die uns erwischen?« Sie weigerte sich, die Schecks gegenzuzeichnen, also warf Asha sie raus und heuerte eine gefügigere Sekretärin an. Die Schecks gingen raus, die Regierungsbeamten bekamen ihr Geld.
Asha spürte einen leisen Triumph, denn ein Verdacht, den sie in all den Jahren ihrer vielfältigen, aber nur marginal einträglichen Betriebsamkeit gehegt hatte, schien sich zu bestätigen. Für den Erfolg auf dem großen grauen Markt der Oberstadt brauchte es weniger Mühe und Intelligenz als für das alltägliche Durchkommen in den Slums. Denn dabei kam es nur auf Glück und die Fähigkeit an, sich zwei Dinge fest einzubilden: dass das, was man tat, im großen Ganzen nicht so furchtbar
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