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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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den letzten zwei Jahren zwar mehr als 122   000 Hütten abgerissen worden, aber von den betroffenen Familien hatten zwei Drittel nicht lange genug darin gelebt, um Anspruch auf eine Neubauwohnung zu haben. Sie waren entweder in andere Slums geströmt oder hatten etwas weiter außerhalb neue Slums hochgezogen.
    Dass die Anstrengungen, Mumbai zu »entslummen«, auf ganzer Linie gescheitert waren, machte die Räumung der Flughafen-Slums umso dringlicher. Obendrein hatte dieses Projekt überschaubare Dimensionen bei gleichzeitig überdimensionaler Resonanz. Es würde der Welt zeigen, dass Indiens Führung dem Ziel eines »Mumbai ohne Slums« einen großen Schritt näher kam.
    Asha war empört, dass die Behördenmenschen Slums bloß als Mahnmale für Rückständigkeit erachteten. »Wenn die am Flughafen so dringend Platz brauchen«, sagte sie eines Tages, »dann sollen sie doch ihre Bulldozer auf die Hotels loslassen!« Aber Luxushotels galten nicht als Problem, Swimmingpools und Rasen waren schützenswert. Und was blieb ihr dann noch zu tun, als Führungsfigur eines angeblich dem Glück der ganzen Nation im Wege stehenden Schandflecks? Die Mitbewohner zu gemeinsamen, aber aussichtslosen Widerstandsaktionen aufzurufen? Asha fand es realistischer, weiter ihre privaten Ambitionen zu verfolgen und ein bisschen Geld zu verdienen.
    Sie hatte eine Chance im System der Grundstücksspekulation entdeckt, die in letzter Zeit in Annawadi um sich griff. Die Wohnungen, die man den vertriebenen Bewohnern der Flughafenslums versprach, waren zwar winzig klein – 25  Quadratmeter –, hatten aber fließendes Wasser, und das machte sie zum wertvollen Spekulationsobjekt, denn in ganz Mumbai war bezahlbarer richtiger Wohnraum knapp. Folglich hatten Leute aus der Oberstadt alle möglichen Verschläge in den Slums aufgekauft und sich Urkunden fabriziert, die sie selbst als langjährige Bewohner von Annawadi auswiesen.
    Die meisten Spekulanten planten, die Wohnungen der Umsiedler für Mieteinnahmen oder als Investitionskapital zu nutzen. »Die Wohnung, die ich damit kriege, ist bald zehnmal so viel wert wie das, was mich das Ding hier kostet«, sagte der Geschäftsmann, der Abduls Lagerverschlag gekauft hatte. Ein Schmalspurpolitiker namens Papa Panchal brachte gleich eine ganze lange Reihe Hütten am Klärteich an sich, gegen Provision im Auftrag eines Großinvestors, und hatte in dessen Namen auch einen Schlägertrupp angeheuert, um die Bewohner zum Verkauf zu überreden.
    Asha hatte im Vorgriff auf eine eigene Provision von einem Hotelzulieferer in den mittleren Jahren einer jungen Frau die Hütte abgeschwatzt. Geeta war Mutter von drei Kindern und Analphabetin. Die Papiere, die den Geschäftsmann als Slumveteranen auswiesen, waren gut gefälscht. Aber dann hatte Geeta angefangen nachzudenken, und zwar lauthals.
    Wüstes Geschrei, die Slumgassen rauf und runter! Asha habe sie über den Tisch gezogen! Ihre Kinder müssten auf der Straße aufwachsen! Geeta weigerte sich, aus der Hütte auszuziehen, und lief zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Die Sache mit der Polizei hatte Asha natürlich regeln können. Der wirkliche Ärger ging los, als der Geschäftsmann eine Bande besoffener Kerle schickte, um Geetas Auszug zu beschleunigen – ausgerechnet an einem Sonntagnachmittag, wenn in Annawadi alle zu Hause sind und zugucken.
    Asha schickte Rahul zur Kontrolle zu der Hütte, wo die Männer die wild um sich schlagende, zierliche Geeta an den Haaren auf den Slumweg zerrten, ihre Habseligkeiten in den Klärteich schmissen, sie als Hure beschimpften und ihre letzte Tüte Reis mit Petroleum übergossen. Geetas kleine Kinder hockten sich hin und lasen schluchzend die verdreckten Reiskörner einzeln wieder auf.
    Ein schlimmes Bild. Verheerend für das Ansehen eines Slumlords, erst recht wenn der eine Frau war und für alle sichtbar mit versteinerter Miene zu Hause gesessen hatte, während draußen auf den Slumgassen die Gewalt tobte. Seit diesem Sonntag fegte das Getuschel der Nachbarn hinter Asha her wie eine Windhose.
    »Die ist schon wie so ’n Tier vor lauter Gier«, sagte eine Nepali-Frau hinter vorgehaltener Hand.
    »Die war ja immer schon verschlagen, aber jetzt wissen wir, wenn die Geld riecht, geht die über Leichen«, sagte eine Tamilin.
    »Die hat da bestimmt zehntausend Rupien rausgeholt«, sagte Zehrunisa. Das kam Asha zu Ohren und tat am meisten weh. Zehntausend wären phantastisch gewesen – ein Ausgleich für den ramponierten

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