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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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gerade erst ein anderes Muslim-Kind krankenhausreif geprügelt, sie hatten ihm den Kopf mit ihren Schlägern zertrümmert.
    Hoch oben über Abdul hangelte Rahul schon am nächsten Pappelfeigenast und versuchte, einen zweiten profitträchtigen Drachen freizuzerren. Die Blätter an diesem Baum waren grau wie so vieles in Annawadi, vom Sand und vom Schotterstaub, der aus einer nahen Betonfabrik herübergewirbelt wurde. Vom Luftholen stirbt man nicht, beruhigten die Alteingesessenen die besorgten Neuankömmlinge mit den roten Augen, die die Luft in Annawadi zum Schneiden fanden. Offenbar doch, denn andauernd starben Leute – an Asthma, an verklebten Lungen, an Tuberkulose, die alle nicht behandelt wurden. Abduls Vater, der sich in der Hütte durchs Leben hustete, hatte einen versöhnlicheren Spruch. Die Betonfabrik und die ganzen anderen Neubauten, sagte er, bringen mehr Arbeitsplätze in die Boomgegend rund um den Flughafen. Und kaputte Lungen seien nun mal der Tribut, den man für ein Leben nah am Fortschritt zu zollen habe.
    Um sechs kam Abdul freudestrahlend aus der Hocke hoch. Er hatte vierzehn prallvolle Säcke Müll sortiert und die Kricketspieler geschlagen. Aus den Hotels stiegen Wölkchen hoch – das allabendliche Räucherritual gegen die Moskitos –, und Abdul und zwei kleine Brüder hievten die Säcke auf die Ladefläche einer limonengrünen dreirädrigen Klapperkiste. Das Vehikel war der kostbarste Besitz seiner Familie, mit ihm konnte Abdul seinen Müll selbst abliefern. Also dann, ab damit in die Recyclingfabriken, raus auf die Airport Road und rein in die hupendröhnende Großstadt-Oper.
    Vierräder, Zweiräder, Busse, Roller, Tausende von Fußgängern: Abdul brauchte über eine Stunde für die knapp fünf Kilometer, an der Kreuzung bei den Gärten des Hotels Leela kam der Verkehr fast zum Erliegen, um die Ecke stauten sich europäische Limousinen für die Kundschaft eines Konzerns namens »Spa de Car«. Hier wurde gerade ein Abschnitt für Mumbais erste U-Bahn gebaut, als Ergänzung zur Hochschnellstraße, die nach und nach über die Airport Road wuchs. Abdul hatte Angst, dass ihm im Stau das Benzin ausging, aber sein Vehikel schaffte es in den letzten spinnenfeinen Lichtfäden vor der Dunkelheit gerade noch ächzend bis hinein nach Saki Naka.
    Saki Naka war ein riesiger Slum, hektarweit Schuppen voller Maschinen zum Metallschmelzen und Plastikschreddern, deren Besitzer gestärkte Kurtas trugen – weiße Kurtas, zum Zeichen der Distanz zwischen ihnen und dem Dreck ihres Gewerbes. Manche ihrer Arbeiter dagegen hatten schwarze Gesichter vom Kohlenstaub und mit Sicherheit schwarze Lungen vom Einatmen von Eisenspänen. Vor ein paar Wochen hatte Abdul gesehen, wie sich ein Junge, als er Plastikteile in einen Schredder stopfen wollte, die ganze Hand sauber abgetrennt hatte. Dem Jungen waren die Tränen in die Augen geschossen, aber geweint hatte er nicht. Er hatte einfach nur dagestanden, und das Blut war ihm aus dem Stumpf geschossen. Es war das Ende seiner Chancen, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, aber er fing sofort an, sich beim Fabrikbesitzer zu entschuldigen. »
Sa’ab,
es tut mir leid«, sagte er zu dem Mann in Weiß. »Ich mach Ihnen auch bestimmt keinen Ärger, ich melde das nicht. Wegen mir kriegen Sie keine Probleme.«
    Mirchi konnte ja viel erzählen über Fortschritt, aber Indien machte noch immer jedem klar, wo er hingehörte, und für Abdul war es bloß kindischer Zeitvertreib, sich das anders zu wünschen, genauso gut hätte man versuchen können, seinen Namen bei der Hitze in Kulfi-Eis zu ritzen. Er hatte geschuftet, so hart er konnte, die Arbeit, in die er hineingeboren war, war zwar diskriminiert, aber mittlerweile kein brotloses Gewerbe mehr. Er hatte die Absicht, mit seinen beiden Händen und den Taschen voller Geld nach Hause zu kommen. Er hatte das Gewicht seiner Ware im Kopf überschlagen, und es hatte ungefähr gestimmt. Die recycelbaren Abfälle der Hochsaison und ein gleichzeitig boomender Weltmarkt hatten seiner Familie ein Einkommen beschert, das nur wenige Bewohner von Annawadi je gehabt hatten. Abdul hatte pro Tag fünfhundert Rupien, knapp acht Euro, eingenommen – das reichte als Starthilfe für den Plan, der das morgendliche Geschimpfe seiner Mutter befeuerte und den sogar die kleinen Husains für sich zu behalten wussten.
    Mit dem Geld jetzt und den Ersparnissen aus dem Vorjahr konnten seine Eltern endlich die Anzahlung auf ein eigenes Stück Land leisten,

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