Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
tausend Quadratmeter in einer ruhigen Gegend in Vasai, gleich hinterm Stadtrand, wo Recyclingfirmen überwiegend in muslimischer Hand waren. Wenn es mit dem Leben und dem Weltmarkt so weiterging, waren sie bald nicht mehr Landbesetzer, sondern -besitzer, und zwar an einem Ort, wo ganz bestimmt niemand mehr Müll zu ihm, Abdul, sagen würde.
2. Asha
R ahuls Mutter Asha machte in diesem hoffnungsvollen Winter eine interessante Beobachtung: Robert Pires war durchgeknallt und fromm geworden! Der Slumlord von Annawadi schlug zwar weiter seine zweite Frau, aber immerhin ließ er sie am Leben. Er hängte einen Schrein für den Christengott an seine Hütte, dann noch einen für eine hinduistische Göttin. Vor beiden Altären faltete er jeden Samstag die fleischigen Pranken zum Gebet und tat, indem er Tee und Brot an hungrige Kinder austeilte, Buße für seine Missetaten in der Vergangenheit. Wochentags, wenn die Anziehungskräfte der Unterwelt schwanden, vertrödelte er Stunden in trauter Gemeinschaft mit den neun Pferden, die er im Slum hielt. Zweien hatte er Streifen aufgemalt, damit sie wie Zebras aussahen. Die Fake-Zebras vermietete er mitsamt Karren für Kindergeburtstage an Mittelschichtfamilien – diesen Schwenk hin zu ehrlicher Arbeit, fand er, müssten ihm die göttlichen Richter eigentlich gutschreiben.
Angesichts dieser Läuterung witterte die neununddreißigjährige Asha Waghekar ihre Chance. Robert hatte den Geschmack an der Macht just in dem Moment verloren, in dem sie selbst darauf gekommen war. Sollten doch andere Leute Ringelblumen flechten. Sollten andere Leute Müll sortieren. Sie wollte die Frau sein, um die man nicht herumkam, weder die Oberstädter, die Annawadi auszubeuten trachteten, noch die Unterstädter, die das überleben wollten.
Slumlord war kein offizielles Amt, aber die Bewohner wussten sehr wohl, wer es innehatte: – derjenige, den Lokalpolitiker und Polizisten erkoren hatten, die Siedlungen gemäß den Interessen derer zu verwalten, die das Sagen hatten. Aber so rasant sich Indien auch modernisierte, weibliche Slumlords waren noch immer eine ziemliche Rarität, und die wenigen Frauen, die es schafften, solche Machtpositionen zu besetzen, hatten in der Regel Landbesitz geerbt oder waren Strohfrauen mächtiger Ehemänner.
Asha verfügte über keinerlei Besitz. Ihr Mann war Alkoholiker und Wanderbauarbeiter, und das Einzige, was er mit Nachdruck betrieb, war Ehrgeizlosigkeit. Die gemeinsamen drei Kinder waren inzwischen im Teenageralter, Asha hatte sie allein großgezogen, und kaum einer der Nachbarn hatte sie jemals als Frau von irgendjemandem empfunden. Sie war einfach Asha, eine Frau, die auf eigenen Füßen stand. Unter anderen Umständen hätte sie ihren eigenen Kopf womöglich gar nicht entdeckt.
Roberts historischer Beitrag für Annawadi hatte hauptsächlich darin bestanden, Asha und andere in Maharashtra Gebürtige in den Slum zu holen, denn auf die Weise versuchte die Shiv-Sena-Partei, ihr Wählerpotenzial in der Flughafengegend zu vergrößern. Als Lockmittel wurde ein öffentlicher Wasseranschluss installiert, und 2002 hatten die aus Maharashtra den tamilischen Tagelöhnern, die den Boden überhaupt erst erschlossen hatten, die Macht abgenommen. Eine Mehrheit auch zu halten ist allerdings nicht ganz leicht in einem Slum, in dem fast niemand einen festen Arbeitsplatz hat. Hier herrschte ständiges Kommen und Gehen, die Leute verkauften oder vermieteten ihre Hütten auf dem blühenden Schwarzmarkt, und so waren Anfang 2008 wieder die nordindischen Migranten in der Mehrzahl, gegen die die Shiv Sena zu Felde zog. Was Asha klar erkannt hatte, war bald auch dem gewählten Vertreter des Wahlbezirks 76 , in dem Annawadi lag, klar: Robert gehörte inzwischen ganz seinen Zebras. Er hatte kein Interesse mehr an der Partei und dem Slum.
Bezirksrat Subhash Sawant war ein Mann mit gipsartigem Make-up, gefärbten Haaren, Pilotensonnenbrille und Weitblick. Roberts Nachfolger auf dem Slumlord-Posten hätte eigentlich ein wortgewandter Shiv-Sena-Aktivist namens Avinash werden sollen, aber der hatte zu viele andere Dinge im Kopf, um für die Interessen des Bezirksrats von Nutzen zu sein. Avinash reparierte Tag und Nacht Hotelkläranlagen, um seinen Sohn auf eine Privatschule schicken zu können.
Asha dagegen hatte Zeit. Sie war Erzieherin für Vorschulkinder in einer großen städtischen Schule, mit Werkvertrag und bescheidener Bezahlung. Der Job war eine Sinecure, die ihr der Bezirksrat
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